„Die Haltung der EU ist zynisch“

Lotte Leicht, Direktorin des Brüsseler Europa-Büros von „Human Rights Watch“, meint, nur eine internationale Kommission könne Menschenrechtsverstöße in Tschetschenien untersuchen

taz: Wie beurteilen Sie den Textentwurf, den die EU in die UNO-Menschenrechtskommission eingebracht hat, als Grundlage für eine Resolution bzw. für eine mit Russland abgestimmte Erklärung des Kommissionsvorsitzenden?

Lotte Leicht: Zunächst ist noch völlig offen, ob die EU tatsächlich eine Resolution anpeilt. Wichtige Mitgliedsstaaten wollen lediglich eine mit Russland abgestimmte Erklärung des Vorsitzenden der UNO-Kommission. Als Ergebnis der jetzt laufenden Beratungen mit Russland ist damit zu rechnen, dass der ohnehin schon schwache Textentwurf der EU noch weiter abgeschwächt wird. In dem Entwurf fehlt die – unserer Meinung nach völlig unverzichtbare – Forderung nach einer Untersuchung der Menschenrechtsverstöße durch eine unabhängige internationale Untersuchungskommission. Die EU begnügt sich mit einer nationalen Untersuchung durch Russland. Angesichts der Erfahrungen, die wir in den letzten Monaten mit der russischen Aufklärungsbereitschaft gemacht haben, ist diese Haltung der EU nicht nur naiv, sondern zynisch. Das ist so, als hätte die EU Milošević zur Aufklärung des Völkermords und der „ethnischen Säuberungen“ und Massenvergewaltigungen während des Bosnienkrieges aufgefordert.

Wieso?

Moskau hat bisher überhaupt keine ernsthafte Absicht erkennen lassen, die von russischen Soldaten verübten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße, die von Human Rights Watch, amnesty international und anderen Organisationen dokumentiert wurden, zu untersuchen, geschweige denn sie zu ahnden. Der von Präsident Putin ernannte neue Sonderbeauftragte für Menschenrechtsfragen, Vladimir Kalamanov, der ja bislang für die nationalen Aufklärungsbemühungen verantwortlich ist und dem HWR und ai seit Januar umfangreiches Beweismaterial vorgelegt haben, hat gestern in Genf Menschenrechtsverletzungen durch russische Soldaten glattweg bestritten. Die Soldaten hätten keine tschetschenischen Frauen vergewaltigt, sondern seien von diesen Frauen „zum Sex verführt worden“, so behauptete Kalamanov. Doch selbst wenn die russische Regierung ernsthaft um eine Aufklärung bemüht wäre – nach allem, was geschehen ist, steht zu befürchten, dass sich Opfer und Zeugen von Menschenrechtsverstößen aus Furcht vor Repressalien nur einer internationalen Untersuchungskommission offenbaren würden.

Ist dies den 15 EU-Staaten unbekannt?

Nein. Es gab zunächst einen von mehreren EU-Staaten (Schweden, Dänemark, Irland und die Benelux-Länder; d. Red) getragenen Entwurf für eine Resolution, in der neben nationalen russischen Aufklärungsbemühungen auch eine unabhängige internationale Untersuchungskommission gefordert wurde. Doch dieser Entwurf hatte keine Chance, weil die beiden gewichtigen EU-Mitglieder Deutschland und Großbritannien dagegen waren.

Aber ist die auf Konsens zielende Koordination der 15 untereinander und ihr Auftreten mit einer gemeinsamen Position in der UNO-Menschenrechtskommission nicht ein Fortschritt?

Konsens darf nicht zum Ziel an sich werden, wenn darunter die Qualität der gemeinsamen Position leidet. Und das ist leider der Fall in der EU. Eine gemeinsame, starke Position ist die Ausnahme von der Regel. Zunehmend diktieren die starken EU-Staaten die gemeinsame Haltung der Union in Menschenrechtsfragen. Und die Debatte über diese wichtigen Fragen findet hinter verschlossenen Türen statt.

Eines der Argumente von Bundesaußenminister Fischer ist, Russland dürfe „nicht isoliert werden“.

Dem stimme ich völlig zu. Aber wir verlangen in keiner Weise eine Isolation Russlands. Ganz im Gegenteil. Wir haben nicht für die Suspendierung der russischen Mitgliedschaft im Europarat zum jetzigen Zeitpunkt plädiert. Das ist ein viel zu einfacher Ausweg. Stattdessen fordern wir, dass die Minister die zahlreichen konkreten Menschenrechtsinstrumentarien, die im Europarat zur Verfügung stehen, erst einmal gegenüber dem Mitglied Russland zum Einsatz bringen. Das ist bislang ja noch überhaupt nicht geschehen. Human Rights Watch hat die Mitgliedsstaaten des Europarates aufgefordert, Russland wegen der Verletzung der von Moskau ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention vor dem zuständigen Europäischen Gerichtshof zu verklagen.

Interview: ANDREAS ZUMACH