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Beckett mit Fame

Ödes Ende: Marco Berettinis tänzerische Wahrheitssuche „Multi(s)me“ auf Kampnagel  ■ Von Birgit Glombitza

Am Nordpol ist es bitterkalt. So kalt, dass sogar die Fragen gefrieren, alle Besinnung vor Frost schon Beulen wirft und aller Tanz zur Aufwärmübung mit unbestimmten Ausgang gerät. Eine Tänzerin weiß wenigstens, wo sie steht. Eine Fahne aus Alufolie markiert ihre Position im ewigen Eis wie ein Punkt das Satzende. Iglus mit Micky-Maus-Ohren ziehen vorbei. Das Wanderzelt der Unterhaltung braucht keinen Standpunkt. Andere Tänzer kommen auf Händen oder Füßen, stellen ihre Tasche ab, ziehen sich Geishakostüme, Silberroben oder andere Kleidung über, die bei der Lösungssuche praktisch sein könnte. Die Übersetzer und Dazwischenquatscher im Hintergrund erscheinen im Tennisdress. Wie Balljungen auf dem Centre Court abendländischer Grübeleien heben sie auf, was die Spieler fallenlassen: Sprachfetzen, Aussagen, Zweifel, Ansprüche.

Einer wird nachts von einer Stimme geweckt. „'Sag den Menschen die Wahrheit', sagt sie“, übersetzten die Balljungen eifrig. „'Ich bin nicht Moses', raunt der Geweckte. 'Ich bin nicht Gott', raunt die Stimme“, raunen die Balljungen.

Die Wahrheit also. Kein Problem: Die Zeiten sind schlecht, die Arbeitslosigkeit ist hoch, auch auf den Fahrradwegen ist man nicht mehr sicher. Der Geweckte rasselt den Krisenkanon herunter. Was ist das Problem, was die Lösung? Doch damit überhaupt etwas in die Gänge kommt, „müsst Ihr erst einmal stinksauer werden“, wird das Publikum vom Übersetzer-Duo ermuntert. Renitenz ist eine Frage hartnäckige Gruppenanimation. Damit aus Nichtssagenden Neinsager werden. Jedes Problem hat schließlich seinen „Preis, ähhh...Wert“. Verhandlungsbasis in einer Lösungslotterie.

Bis hierhin liefert Multi(s)me, das Tanztheater des Tänzers, Choreographen und Schauspielers Marco Berrettini und der Compagnie Sion auf Kampnagel ein lustvolles Cross-Over aus Beckett und Fame. Es amüsiert sich ebenso über triviale Bedeutungswut wie über den Silberblick der Selbstbetrachtungen. Doch dann wird's vor lauter Assoziationen so luftig, dass alles heillos auseinandertreibt.

So erkältet sich das Stück „über Helden im Selbstversuch für sieben Tänzer, einen Virus und zwei Schatten“ an der Zugluft der Wiederholungen und der Beliebigkeit. Was anfangs so leichthändig, verspielt und absurd über Indivudualkunst und Gruppengroove sponn, das verschnieft nach einer Stunde in Fahrigkeit. Keine Zuspitzung, keine Pointierungen mehr. Alles klumpt wie Kopfproteine im Fieber. Und am Ende bleibt der „Virus Mickey Monschwitz“ – wie die Micky Maus sich hier klangvoll nennt – übrig. Das serielle Sammelbildchen argloser Unterhaltung, die das Gute will und das Gleichgültige schafft. Und diese Maus tanzt und tanzt und tanzt. Auch wenn kein Scheinwerfer mehr Licht auf ihre Pirouetten wirft und keine Musik mehr ihren Schritten Halt gibt. Das dauert länger als der Bühnenabbau. Und der Anfang mit seinen furisosen Zweifeln an Leib und Wahrheit und seinem Appell an die Wonnen infantiler Stinkwut und Egozentrik ist ferner als das Nordlicht. Wie war also noch mal die Frage?

 Kampnagel k1, 14.-16.4. + 19-22.4., 19.Uhr

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