Von Block zu Block

Alex Slade interessiert sich für Interieurs und andere soziale Räume. Jetzt ist seine fotografische Recherche zur Fischerinsel in der Galerie Wiensowski und Harbord zu sehen
von HARALD FRICKE

Junge Leute mögen die Fischerinsel. Weil sie ein politisches Symbol ist. Für sozialistische Utopien mit Popcharakter. Da ist zum Beispiel das „Ahornblatt“ mit seiner fünfzackigen Dachkonstruktion und den Glasfassaden, das in der DDR der 70er-Jahre als das modernste Bauwerk Ostberlins galt. Nach der Wende war dann Schluss mit Hip, und das Haus sollte abgerissen werden. Schon 1992 lagen Pläne vor, die Fischerinsel mit Regierungsklötzchen für diverse Ministerien neu zu bebauen – obwohl Architektursoziologen wie Harald Bodenschatz von Beginn an strikt gegen den Abriss waren. Plötzlich wurde das Haus auch für die Polit-, Club- und Kunstszene interessant: Hier gab es Auftritte der Stereo MCs und die ersten Sondierungsgespräche zu den „Innenstadtaktionen“ 1997. Offenbar mit Erfolg. Das „Ahornblatt“ steht noch immer.

Alex Slade fährt gerne mit dem Rad durch Berlin. Eine seiner häufigsten Touren führt von Kreuzberg zur Stadtbibliothek. Dabei kommt auch er automatisch an der Fischerinsel vorbei. Irgendwann hat der kalifornische Künstler deshalb beschlossen, eine Fotoarbeit über den Gebäudekomplex zu machen. Nicht über das „Ahornblatt“, sondern über die sechs Wohnhochhäuser, die einigermaßen unscheinbar drum herum stehen. Das liegt an seiner Einstellung zur Architektur, die für ihn sozialen Raum darstellt und nicht unbedingt ein ästhetisches Gebilde. Schließlich stammt er aus Los Angeles und ist avantgardistische Bauprojekte von Gehry & Co. gewöhnt. Das Ergebnis seiner Recherche sind ein Dutzend Fotos und sieben Aluminiumpfeiler, die in der Galerie Wiensowski und Harbord gezeigt werden.

Der Ausgangspunkt für Slade ist das Innere der Architektur: Wie leben Menschen in Vorzeigebauten? Als die Hochhäuser Ende der Sechzigerjahre bezugsfertig waren, wurden sie als Aushängeschild gegenüber dem Westen genutzt: Seht her, so luxuriös wohnt man in der DDR. Entsprechend exklusiv war die Klientel, die die Mustergültigkeit des Sozialismus in seinem Fortschritt verkörpern durfte. Als Mieter wurden hauptsächlich kinderreiche Familien von Lehrern und Werktätigen in gehobener Position ausgewählt.

Mit der Wiedervereinigung kippte das Soziotop um. Die Prestigebauten verfielen, die Rasterfassaden aus Beton und minimalistischem Dekor wurden durch eintönige Steinplattenverkleidungen ersetzt. Ausgerechnet die Prunkstücke der DDR-Moderne sehen nun wie grauer Ostalltag aus. Inzwischen werden freie Wohnungen vor allem an Umsiedler oder an sozial schwache Familien vermietet. Daraus ergeben sich merkwürdige Verschiebungen, denen Slades Fassadenfotos folgen: Plötzlich hat jemand neben zierlich plüschigen Gardinenrüschen sein Fenster mit rosa Bettlaken verhängt. Oder mit Bikerfahnen.

Weil Slade ein enormes Gespür für Details hat, wirken seine Aufnahmen wie urbane Nikolauskalender, bei denen man jedes Mal neu fasziniert überlegt, was hinter welchen Scheiben wohl passiert. Dafür hat man reichlich Gelegenheit, immerhin zeigen seine Fotos ein paar hundert hinter Glas versteckte Lebenswelten. Damit man zwischen lauter Gegensätzen und Brüchen im Wohnstil nicht die Orientierung verliert, hat er im Nebenraum Säulen mit farbig bemalten Aluquadraten installiert, die die fotografierten Ausschnitte in einer räumlichen Situation verorten, wie eine Art dreidimensionaler Stadtplan.

Das Projekt reicht allerdings sehr viel weiter. Um eine „different kind of mapping“ herzustellen, hat er Mieter gebeten, Aufnahmen bei ihnen zu Hause zu machen. Nach über vierhundert Anfragen kamen fünf Zusagen. Slade wurde zum Kaffee eingeladen, konnte die Interieurs fotografieren und die Panoramasicht auf gegenüberliegende Gebäude ablichten. So wiederholt sich im Blick des Fotografen der Alltag der Bewohner. Slade entwickelt dabei ein vielschichtiges Zusammenspiel aus Innenraum- und Außenraumbildern, das vom Bücherregal oder der jahrzehntealten VEB-Sitzecke bis zum Rundblick über das Viertel reicht.

Tatsächlich bekommt man eine Ahnung vom Wandel in Mitte, ohne den Investoren-Hype und ohne die Melancholie des verlorenen Ostens. Stattdessen holt Slade mit einigem Geschick etwas von der Utopie zurück, die im sozialistischen Wohnungsbau eben auch einen kollektiven Lebensentwurf sah. Vielleicht liegt es auch an der Strahlkraft seiner Fotos. Bevor er mit seinem Berliner Projekt anfing, hat sich Slade vor allem flämische Maler angeschaut. Ein bisschen schimmern nun auch die Wohnzimmer der Fischerinsel im Licht von Vermeer.

Alex Slade: „Fischerinsel“, Galerie Wiensowski und Harbord, Goethestraße 69, Fr–So 15–19 Uhr

Hinweis:Plötzlich hat jemand neben zierlich plüschigen Gardinenrüschen sein Fenster mit schwarzen Bettlaken verhängt. Oder mit Bikerfahnen.