: Auf dem Weg zur Diktatur
Ob Weißrussland, Ukraine oder Russland: Überall zeigen sich starke totalitäre Tendenzen. Trotzdem besteht die Chance der Demokratisierung – wenn Europa nicht nur hilflos zusiehtvon BARBARA OERTEL
Der Coup war lange geplant und demokratisch inszeniert. Im Januar, nur zwei Monate nach seiner Wiederwahl, setzte der ukrainische Staatspräsident Leonid Kutschma für den 16. April ein Referendum an. Das Volk soll sich am Sonntag zur Abschaffung der Immunität von Abgeordneten äußern, zur Einführung eines Zweikammerparlaments und zur Verringerung der 450 Mandate auf 300. Abgefragt wird auch, ob die Kammer aufgelöst werden kann, wenn keine Mehrheiten zustande kommen. Immerhin hat das ukrainische Verfassungsgericht untersagt, dass zwei besonders antidemokratische Vorschläge abgestimmt werden. Ursprünglich nämlich wollte Kutschma auch noch darüber befinden lassen, ob die Verfassung künftig per Volksentscheid und damit am Parlament vorbei geändert werden darf. Und gern hätte der Präsident vom Volk erfahren, ob das Parlament, das erst im März 1998 (!) gewählt wurde, noch das Vertrauen der Mehrheit genießt. Im Falle einer negativen Antwort hätte Kutschma die Verchovna Rada auflösen können.
Was die Domestizierung aufmüpfiger Volksvertreter angeht, befindet sich Kutschma in guter Gesellschaft mit Weißrussland und Russland. So ließ Weißrusslands Staatspräsident Alexander Lukaschenko im November 1996 durch eine Volksabstimmung seine Amtszeit bis zum Jahre 2001 verlängern und die Parlamentarier aus ihren Ämtern jagen. Die präsidentenhörigen Abgeordneten des neu gebildeten Obersten Sowjets winken jetzt, ganz wie früher, jede Entscheidung der Regierung durch. Und das neue Wahlgesetz, das die ohnehin marginalisierte Opposition aus so wichtigen Gremien wie der Wahlkommission ausschließt, lässt keinen Zweifel daran, dass auch nach den diesjährigen Parlamentswahlen im Herbst – sollten sie überhaupt stattfinden – alles beim Alten bleibt.
Russlands Präsident Boris Jelzin hielt sich im Herbst 1993 erst gar nicht lange mit demokratischen Spielchen auf. Als der Konflikt zwischen Parlament und Regierung eskalierte, schickte er Panzer ins Zentrum von Moskau und ließ die unbotmäßige Duma beschießen.
In Moskau und in Kiew war die Begründung für dieses undemokratische Vorgehen identisch: Die Parlamente – von den linken Kräften dominiert, allen voran den Kommunisten – würden die ambitionierten Projekte der Exekutive blockieren und damit weitreichende Wirtschaftsreformen verhindern.
Bei den Verantwortlichen im Westen, die bei postkommunistischen Staaten nur allzu schnell rot sehen, zog diese Argumentation – damals wie heute. So genoss Jelzin während des Präsidentenwahlkampfes 1996 gegen seinen kommunistischen Widersacher Gennadi Sjuganow die massive Unterstützung des Westens. Daran änderte auch die durch den ersten Tschetschenienkrieg blutbesudelte Weste des zum Demokraten stilisierten Jelzin nichts.
Auch der ukrainische Präsident Leonid Kutschma erschien vielen, angesichts der Stärke der ukrainischen Kommunisten und ihrem Spitzenkandidaten Pjetr Simonenko, immer noch als bessere, weil vermeintlich berechenbarere Alternative. Da machte es wenig, dass Kutschma im Wahlkampf massiv in die Pressefreiheit eingriff, um die kritischen Medien mundtot zu machen.
In der Optik gewisser westlicher Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ist ein solches Taktieren verständlich. Schließlich verhandelt es sich besser mit den selbst ernannten Reformkräften. Sie sind oftmals in vorauseilendem Gehorsam bereit, die verordneten Vorgaben – wenn nötig auch mit der Brechstange – durchzusetzen.
Da ist es kaum der Rede wert, dass dabei Millionen Menschen im freien Fall in die Armut und sogar unter das Existenzminimum abrutschen. Es stört auch nicht, dass sich die Regierenden schamlos bereichern und Gelder durch dunkle Kanäle ins Ausland transferieren. Es scheint unerheblich, dass im Falle Russlands nebenbei auch noch ein Genozid mitfinanziert wird. Unter dem Strich also bleibt: So genannte „Reformer“ gilt es zu unterstützen. Auch wenn die logische Konsequenz ist, dass selbst bei schwersten Verfassungsbrüchen und Menschenrechtsverletzungen ein Auge zugedrückt wird.
Diese selbst verordnete Blindheit können sich die Hüter von Demokratie und Menschenrechten westlicher Provenienz – wollen sie nicht total an Glaubwürdigkeit einbüßen – auf Dauer nicht leisten. Und so appellierte die Parlamentarische Versammlung des Europarates am Dienstag vergangener Woche an die Ukraine, das Referendum zu verschieben. Sollte die Volksabstimmung dennoch stattfinden und ihre Ergebnisse die ukrainische Verfassung verletzen, wurde mit einem Ausschluss des Landes aus dem Europarat gedroht.
So weit, so gut. Nur: Sollte dieser Beschluss tatsächlich umgesetzt werden, erhebt sich eine ganz andere Frage. Sie ist unangenehm und lautet: Welche Maßstäbe legt der Europarat überhaupt an? Immerhin schaffte es die Organisation erst nach monatelangem Lavieren, Russland mit den gleichen Sanktionen zu drohen wie der Ukraine. Und das, obwohl das Land gegen einen Teil seiner Bevölkerung einen barbarischen Krieg führt. Trotz identischer Drohungen des Europarates ist jedem klar, dass sie kaum die gleichen Konsequenzen haben werden. Und in Moskau, das sich in heftigen verbalen Retourkutschen erging, glaubt niemand an den Vollzug der Drohung. Dazu ist Russland als Global Player zu wichtig und zu gefährlich.
Angesichts der ambivalenten Haltung des Westens bleiben die sowjetischen Nachfolgestaaten im Wesentlichen sich selbst überlassen. Bemerkenswert ist immerhin, dass es auch Anzeichen dafür gibt, dass sich demokratische Prozeduren einspielen. Dafür spricht nicht nur die schon erwähnte Korrektur, die das ukrainische Verfassungsgericht am bevorstehenden Referendum vorgenommen hat. Ähnlich gelagert ist ein kurzzeitiger Boykott von Abgeordneten der russischen Duma im vergangenen Januar. Sie protestierten damit gegen das abgekartete Spiel von Kommunisten und der Partei von Präsident Putin bei der Besetzung von Ausschussposten.
Die Frage bleibt jedoch offen, wohin die Reise in der Ukraine und Russland geht. Kutschmas Angriff auf das Parlament muss nicht der letzte Versuch dieser Art gewesen sein. Und in Russland ist von einer Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten zugunsten der Duma inzwischen keine Rede mehr. Dort waren während der Wirtschaftskrise von 1998 entsprechende Verfassungsänderungen vehement diskutiert worden. Jetzt ist das Gegenteil festzustellen: Präsident Putin liebäugelt – frisch gewählt – schon mit der Idee, sein Mandat von vier auf sieben Jahre zu verlängern. Auch die Regierungschefs der Republiken und Provinzen, die vom Volk gewählt werden, könnten bald wieder von Moskau ernannt werden.
Es mangelt nicht an Warnungen, dass in Russland und der Ukraine ein Szenario wie in Weißrussland möglich ist. Sie sollten im Westen nicht noch einmal, wie schon 1996 in Minsk, ungehört bleiben.
Hinweise:Selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen werden vom Westen ignoriertDer Westen kannsich selbst verordneteBlindheit nichtmehr leisten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen