Grenzen der Sinnsuche

Drogen, Krisensituationen, fragwürdige Meditationspraktiken oder auch Sektenzugehörigkeit können Menschen in den psychischen Zusammenbruch treiben. Nicht automatisch sind hier Psychiatrisierung und Psychopharmaka angesagt.Fachleute fordern stattdessen kompetente Begleitung beim Durchleben der Krise

von E. C. GRÜNDLER

Sie wären vermutlich in der Psychiatrie gelandet, wenn sie im 20. Jahrhundert gelebt hätten: Daniel, Paulus und Johannes. Prophet Daniel hatte „ein Gesicht“, das ihm der Engel Gabriel „deutete“. Saulus fiel auf die Erde und hörte eine Stimme. Anschließend konnte er „drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht“. Auch Daniel war nach seinem Erlebnis „erschöpft ... und einige Tage krank“, bis er wieder seinem Job beim König von Babylon nachgehen konnte. Der Evangelist Johannes hörte „eine große Stimme wie von einer Posaune“ und hatte Visionen vom Reich Gottes. Daniel, Paulus und Johannes lebten in gesellschaftlichen Strukturen, in denen Religion noch Staatsangelegenheit war und kein privates Gefühl. Das konnte den Betroffenen, je nach Zeitalter, Feuerofen, Stockschläge oder Circusarena einbringen, jedoch kaum eine medizinische Diagnose.

Ecclesiogene Neurose“ lautete die Diagnose, mit der Doris F. eine mehrmonatige klinische Behandlung antrat, die zweite in drei Jahren. Wegen Herzbeschwerden, Verdauungsstörungen, Panikattacken, Depression und Schlaflosigkeit war sie bereits jahrelang in ärztlicher Behandlung und ambulanter Psychotherapie gewesen. Als die Eltern von Doris F. der Neuapostolischen Kirche beitraten, die sie heute als Sekte ansieht, war sie vier. Mit vierzig begann ihre Krankheit. „Ich lebte unter einem ständigen Druck und immer in Angst“, sagt sie rückblickend. „Mein Selbstwertgefühl wurde systematisch zerstört. Die Kirche wird mit Gott gleichgesetzt, jegliche Kritik daran gilt als Zweifel an der Offenbarung.“

Durch die Klinikbehandlung besserten sich Doris F.’s Symptome, doch in ihrer Glaubenskrise fühlte sie sich von Ärzten und Therapeuten nur unzureichend verstanden. Nach fünf Jahren Krankheit und Therapie gelang es ihr, den Schlussstrich zu ziehen: Gemeinsam mit ihrem Mann, der während der ganzen Zeit zu ihr gestanden hatte, trat sie aus der Sekte aus. Ihre Gesundheit konnte sie stabilisieren, doch dem Berufsalltag als Lehrerin ist sie nicht mehr gewachsen. Nach vierzig Jahren Sektenzugehörigkeit musste sie sich frühpensionieren lassen.

Fälle wie die von Doris F. sind keine Seltenheit in psychiatrischen und pyschosomatischen Kliniken. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht, auch keine Schätzungen. Als der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Joachim Galuska 1990 die Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen gründete und eine Behandlung für „Menschen in spirituellen Krisen“ in einer „Transpersonalen Gruppe“ anbot – die erste und bisher einzige im deutschsprachigen Raum –, war die Nachfrage so groß, dass Wartezeiten bis zu fünfzehn Monaten entstanden.

Doch nicht nur Sektenzugehörigkeit treibt Menschen in einen psychischen Zusammenbruch. Auf dem Esoterikmarkt bieten selbsternannte Gurus fragwürdige Meditationspraktiken und Therapien an. Die Nachfrage boomt, wie der Sektenzulauf zeigt. Was das naturwissenschaftliche Weltbild der Moderne ausklammert, bricht sich als einträgliches Geschäft oder auch als Krankheit, wie Neurose oder Psychose, Bahn. Aus guten Gründen verlangen alle westlichen und östlichen Schulen spiritueller Praxis von jedem Initianden eine strenge Disziplin. Ein Lehrer begleitet den Schüler auf dem ritualisierten Weg der Selbsterforschung und des Eintretens in veränderte Bewusstseinszustände. Fehlt diese Begleitung, können auch scheinbar harmlose Entspannungs- und Meditationspraktiken zu derart veränderten Körpersensationen und Wahrnehmungen führen, dass die alltäglichen Begriffe dafür versagen und die Erfahrung nicht mehr in das Alltagsbewusstsein integriert werden kann.

Durchbruch archetypischer Energien“, nennt Joachim Galuska Phänomene wie Zuckungen, Vibrationen, Wärmegefühl, Hitze- und Kälteschauer oder Lichtblitze. Wird dem Schüler nicht bestätigt, dass dies normale Begleiterscheinungen seiner Übungspraxis sind, kann die Psyche aus dem Gleichgewicht geraten. Bei labilen Ich-Strukturen kann ein Abgleiten in die Psychose die Folge sein.

„Die Gottberauschten“ nennt man in Indien Menschen, die sich infolge von Meditations- oder Yogapraxis abweichend verhalten. Das gilt in gewissen Lebenssituationen als „normal“. Die indische Kultur kennt traditionell keine Notwendigkeit, solche Menschen auszugrenzen oder ärztlich zu behandeln. Der amerikanische Psychotherapeut und Psychiater Stanislav Grof, der durch seine klinischen Experimente mit bewusstseinserweiternden Drogen bekannt wurde, kritisierte als einer der ersten, dass „der Prozess des spirituellen Erwachens im allgemeinen ... samt seinen dramatischeren Manifestationen nun als Krankheit betrachtet wird, und die Menschen, die Anzeichen dessen zeigen, was früher als innere Transformation und Wachstum angesehen wurde, heute in den meisten Fällen als krank gelten“. Grof vertritt die These, dass eine Psychiatrisierung dieser Menschen und ihre Behandlung mit Psychopharmaka ungerechtfertigt ist und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten nimmt. Stattdessen fordert er eine fachlich kompetente Begleitung beim Durchleben der Krise.

Anzeichen eines vorsichtigen Umdenkens sind heute in der Medizin erkennbar: Das international gültige „Diagnostical Statistical Manual of Deseases“ verwendet seit 1996 erstmalig die Diagnosekategorie „religiöses oder spirituelles Problem“. Die WHO kennt inzwischen auch „Trance und Besessenheitszustände“ in denen sich ein Mensch so verhält, als würde er „von einer anderen Persönlichkeit, einem Geist, einer Gottheit oder einer ‚Kraft‘ beherrscht“, und grenzt diese Zustände ausdrücklich von solchen ab, die bei akuten Psychosen, Schizophrenien oder Hirnverletzungen auftreten können.

Professor Wilfried Belschner von der Universität Oldenburg plant zusammen mit der Fachklinik Heiligenfeld eine erste empirische Untersuchung über die Häufigkeit des Vorkommens spiritueller Krisen. Das „SEN – Spiritual Emergence Network“ in Freiburg, das über eine Liste von sechzig Therapeuten verfügt, die diese Problematik ambulant behandeln, registriert seit drei Jahren etwa zwanzig Anfragen im Monat.

36 Jahre lang hatte Herbert V. ein normales Leben geführt. Hatte eine Firma und eine Familie gegründet, war erfolgreich, glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Vor gut einem Jahr erholte er sich auf einem Segeltörn in der Ägäis. Bei der Rückkehr geriet die Mannschaft in Seenot, fast manövrierunfähig trieb das Boot auf einen Felsen zu. Als Herbert V. sich in dieser Sitiuation heftig verletzte geschah es: Er hatte ein Nahtod-Erlebnis. Wie im Zeitraffer stand ihm sein bisheriges Leben in allen Einzelheiten vor Augen. Die Geschichte ging gut aus, Boot und Mannschaft wurden gerettet.

Doch für Herbert V. war nichts mehr wie früher. Er fing an in Frage zu stellen, was ihm bisher selbstverständlich gewesen war. Seine Ehe geriet in eine Krise, auch in seiner Firma lief es nicht mehr wie bisher. Seine Sekretärin fand es bizarr, dass er mit ihr über den Sinn des Lebens diskutieren wollte statt über die Abwicklung der nächsten Aufträge. Herbert V. merkte selbst, dass er Hilfe brauchte und suchte sie bei einem Psychotherapeuten. Dieser fing an, mit Herbert V. die Biografie durchzuarbeiten, und riet ihm zur Meditation. Als Herbert V. diesen Rat befolgte, hatte er ein weiteres außerkörperliches Erlebnis und kam immer weniger mit dem Alltag klar. Ein knappes Dreivierteljahr nach dem Segeltörn wurde Herbert V. in die Fachklinik Heiligenfeld aufgenommen.

Wir integrieren Meditation in das Therapieangebot, um die Patienten in ihrer spirituellen Suche ernst zu nehmen und ihnen dafür Raum zu bieten. Doch manchmal müssen wir die Meditation auch untersagen, wenn der Realitätsbezug noch zu wenig stabil ist“ erläutert Joachim Galuska das Therapiekonzept der Klinik. Nach dem Frühstück geht Herbert V. täglich zwei Stunden zur Gruppentherapie in die „transpersonale Gruppe“. Unter der Leitung einer Ärztin und eines Psychotherapeuten werden mit klassischen psychotherapeutischen Methoden die grundlegenden frühkindlichen Beziehungsmuster bearbeitet; gleichzeitig können dort auch die Erfahrungen thematisiert werden, die durch Beschäftigung mit spirituellen Themen gemacht worden sind und deren Integration in das Alltagsbewusstsein bisher nicht gelungen ist. In Heiligenfeld wird aufgrund eines integrativen Therapieansatzes mit tiefenpsychologischen, gestalttherapeutischen, systemischen oder auch verhaltenstherapeutischen Methoden gearbeitet. Weitere Therapiestunden am Morgen und am Nachmittag sind der Körper- und Kreativtherapie gewidmet.

„Je strukturloser, labiler, haltloser und geöffneter die Persönlichkeit ist, um so ausgelieferter ist sie; umso geringer ist ihre Integrationskraft, umso eher ist sie gefährdet, sich in den archetypischen Energien zu verlieren, konturlos und diffus zu werden, psychotisch zu dekompensieren“, sagt Joachim Galuska. Nach den Beobachtungen der Ärzte und Therapeuten in Heiligenfeld stellt sich das Leiden der meisten Patienten als komplexes Gefüge dar: Auslöser ist meist eine persönliche Lebenskrise, in die der Mensch, zum Beispiel durch Scheidung oder Tod eines nahen Angehörigen gerät. Infolge frühkindlicher Störungen kann er diese Krise nicht adäquat verarbeiten und reagiert neurotisch oder psychotisch; daneben gibt es Menschen, wie Herbert V., die in eine echte spirituelle Krise geraten. Die Würdigung des spirituellen Anliegens wird in der Fachklinik Heiligenfeld als wichtige Aufgabe angesehen.

Auch Sektenaussteigern wird in Heiligenfeld fachliche Hilfe geboten. „Diese Patienten“, so Dr. Klaus Buch, „haben ähnlich wie Alkoholiker ein defizitäres, unreifes Ich, das mit Anpassung an die rigiden Strukturen einer Organisation und die kritiklose Unterwerfung unter eine Autorität, seine Lebensprobleme zu bewältigen versucht. Erfahrungsgemäß können wir in der Klinik Menschen helfen, deren Loslösungsprozess von der Sekte bereits begonnen hat. In der psychotherapeutischen Behandlung erhalten sie Unterstützung beim Aufbau gesunder Ich-Strukturen.“

Herbert V. verlässt nach dreimonatiger Behandlung die Fachklinik Heiligenfeld. Sein Familienleben kommt wieder ins Gleichgewicht, seine Firma führt er wie früher erfolgreich. Äußerlich hat sich seine Situation kaum geändert. „Innerlich bin ich nicht mehr derselbe“, sagt er, „meine Maßstäbe haben sich verändert, und ich kann mir zugestehen, dass ich auf der Suche bin.“

E. C. GRÜNDLER, lebt als freie Journalistin in Hannover. Ihre Schwerpunkte: Psychologie und Wirtschaftsthemen