Hauptsache korrekt

Am helllichten Tag durch die Gegend gehen – für die ersten öffentlichen Spaziergänger war das gar nicht so leicht. Zylinderträger und lang berockte Damen stolzieren auf alten Stichen wohl deshalb so steif daher, weil sie lauter Benimmregeln vor Augen hatten. Schleppende Schritte waren verpönt: Sie zeugten von Trägheit und schwachen Nerven. Ein gekrümmter Rücken verriet den Heuchler. Und nur nicht aufstampfen, sonst galt man als anmaßend.

Das richtige, unangestrengte Gehen definiert ein Anstandsbuch von 1830: „Männer von guten Sitten sind keine Sohlengänger, aber ebensowenig sind sie Zehengänger. Ihr Gang ist fest, aber nicht schwerfällig, sie setzen die Füße auswärts, doch ohne Zwang. Ihr Schritt ist mäßig, ohne trippelnd zu seyn.“

Sollten spazierende Herren nun weiterhin den Hut ziehen oder nicht? So heftig feilte man an den Grußmanieren, dass zähe Fehden um das Lüften oder bloße Antippen der Kopfbedeckung entbrannten. Ganz Fortschrittliche ließen die Hand strikt unten: Knechtisch und ungerecht erschien ihnen eine Geste, die alte Hierarchien bestätigte. Freiheit und Gleichheit marschierten voran.

Frauen allerdings hinkten hinterher. Nach dem Ratschluss männlicher Sittenwächter sollten sie die Spazierkunst nicht voll erlernen. In Gesellschaft und auf sicherem städtischen Terrain ja. Allein im Grünen, um sich dort womöglich selbst zu erkennen – nein! „Höchstens in den Momenten der Liebe, die ihrer Natur nach die Einsamkeit sucht, findet man Frauenzimmer am Arm des Geliebten oder eines geliebten Freundes in der Natur“, befand ein Herumstreifer des 19. Jahrhunderts.

Einen folgenreichen Spaziergang machte freilich die Physikerin Lise Meitner mit ihrem Kollegen und Neffen Otto Fritsch. Im Dezember 1938 stapften sie durch den Schnee ihres schwedischen Exils bei Göteborg. Otto Hahn hatte in einem Brief aus Berlin Lise Meitner um Rat gebeten: Der Chemiker hatte erstmals Atom gespalten, ihm fehlte nur noch die theoretische Erklärung dieser Sensation. Die korrekte Analyse entwickelten die zwei Exilanten bei ihrem winterlichen Ausflug zu Fuß.

FRANZ SCHIFFER