Rosa Rotz

Modernisierungsverlierer aus dem vorletztenJahrhundert: „Am 43. April 2000“ im Teatr Kreatur

Ein purpurfarbener Vorhang hebt sich kräuselnd. Drei Männer und eine Frau mit maskenhaft geschminkten Gesichter stolpern, rennen oder laufen durch einen schwarzen Raum. Dazu Musik (Christian Messer), die sich mal schrill, mal sehr symphonisch und ab und zu sakral anhört. Paare und Passanten in einer Zeit, die längst vergangen ist. Dann kommt Poprischtschin (Peter Hausmann), der Held, mit wirrem Blick und irrem Zucken um den Mund. Aus seinem Schatten tritt ein Greis in vermodertem Mantel und Platteauschuhen.

Poprischtschin stammt aus einer Novelle von Nikolai Gogol aus dem Jahr 1835. Darin lässt Gogol den irre gewordenen Bürokraten sich am 43. April 2000 zum König von Spanien krönen. Sein Spanien ist aber die Heilanstalt.

In Wirklichkeit war der 12. April 2000. Man hatte im Teatr Kreatur Platz genommen, das eine ziemlich notorische Affinität zu Wahnsinnigen hat. Sie tragen hier immer dieselben alten Mäntel und verbeulten Hüte, dieselben schwarzen und verstaubten Anzüge, und sie haben immer die gleichen, im Entsetzen erstarrten Minen: allesamt Opfer der riesigen Modernisierungsschübe im 19. Jahrhundert, die an den Verhältnissen den Verstand verlieren. Das Teatr Kreatur ist sozusagen ein Museum der Seele dieses 19. Jahrhunderts und seiner Fratzen. Auch Dzidek Starczynowski, der Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ in 9 groteske Szenen übersetzte, hat dieses Museum bloß weiter bedient und dementsprechend nur Déjà-vus auf Lager. Der Held fantasiert sich langsam hinein in seinen Wahn, den parallel dazu vier sehr bewegliche Mimen albtraumartig bebildern. Mal auf der Erde kriechend, dann wieder bellend oder Stühle zum Thron auftürmend, die schließlich von purpurfarbenen Stoffbahnen umhüllt werden, aus deren Spitze sich der Kopf des eingebildeten Königs zwängt. Rosa Rotz aus der Nase, Schweiß auf der Stirn und unterm Hemd, den man nicht bloß sehen, sondern auch riechen konnte.

Es bewegt sich wenig im Teatr Kreatur. Der Blick wäre doch längst mal auf neue Generationen von Modernisierungsopfern zu richten. Da ist es vielleicht nicht so schaurig-schön wie in den versunkenen Welten des vorletzten Jahrhunderts mit seinen russischen Müttern und vermoderten Greisen. Das wäre aber mal was Neues. ESTHER SLEVOGT

Bis 29. 5., jeweils Do.–So., ab 20 Uhr, Teatr Kreatur, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg