„Den Index politisieren“

Kreuzberger sterben früher: Der Gesundheitsexperte Johannes Spatz fordert, dass die Zahlen über die armen Bezirke endlich Konsequenzen haben

taz: Herr Spatz, Männer und Frauen aus Kreuzberg sterben – statistisch gesehen – fünf Jahre früher als Männer aus Zehlendorf und Frauen aus Treptow. Warum ist das so?

Johannes Spatz: Das liegt daran, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Gesundheit gibt. Dieser Zusammenhang besteht vor allem im Einkommen und in der Bildung der Bevölkerung.

In Zehlendorf, wo Einkommen und Bildungsgrad höher sind als in Kreuzberg, ist es für die Menschen einfacher, bewusst zu leben, sich gesund zu ernähren, bessere Luft zu atmen. In Zehlendorf ist auch die Gefahr viel kleiner, unter ein Auto zu kommen.

Im Sozialatlas werden einzelne Erkrankungen auf ihren Zusammenhang zur sozialen Situation untersucht, darunter Lungenkrebs, Leberzirrhose, Tuberkulose und Brustkrebs. Wo ist der Zusammenhang?

Lungenkrebs und Leberzirrhosetreten bevorzugt bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf. Das liegt daran, dass hier viel mehr geraucht und Alkohol getrunken wird als in anderen Schichten.

Bei Brustkrebs ist es genau gegenteilig. Frauen aus eher wohlhabenden Familien bekommen später Kinder und haben häufig auch nur eins und nicht mehrere. Das führt zu einem anderen Hormonhaushalt, der sie anfälliger für Brustkrebs macht.

Die Zahlen über die geringere Lebenserwartung von Menschen in sozial belasteten Bezirken sind nicht neu, sie werden immer wieder im Jahresgesundheitsbericht und im Sozialstrukturatlas erfasst und veröffentlicht. Welche Konsequenzen muss man als Gesundheitspolitiker daraus ziehen?

An den Konsequenzen hapert es bislang, obwohl gute Gesundheitsberichterstattung eben auch Konsequenzen aufzeigen müsste. Die wichtigste wäre, dass dieser wirklich fundierte Sozialindex zur Grundlage für Zuweisungen des Landes Berlin an die einzelnen Bezirke wird. Das sollte den Globalhaushalt der Bezirke betreffen und auch andere Bereiche wie die Verteilung von Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen.

Kreuzberg muss also wesentlich besser ausgestattet werden als Zehlendorf. Der Sozialindex muss ein bewusstes politisches Instrument werden, das von allen Beteiligten genutzt wird.

Und im Gesundheitsbereich?Was muss da passieren?

Der öffentliche Gesundheitsdienst muss inhaltlich neu gestaltet werden, er muss weg von seiner Orientierung auf die Mittelschicht. Er sollte sich den Menschen zuwenden, die wirklich in Not sind.

Dafür muss der Gesundheitsdienst aber aus seinen Ämtern raus und die Leute dort aufsuchen, wo sie sind. Gesundheitsämter mit ihren großen Diensten müssen zu Brennpunkten wie Obdachlosen- oder Asylbewerberheimen gehen, sie sind angehalten, Treffpunkte von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern aufzusuchen.

Die Gesundheitsämter sollten bei den Anstrengungen von Stadtentwicklungssenator Peter Strieder zur sozialen Stadt mit einbezogen werden. Gesundheit ist bei diesem Thema eine zentrale Frage, aber sie wird bislang kaum mitgedacht.

Viele Ideen hat auch SPD-Gesundheitssenatorin Gabriele Schöttler dazu bislang nicht geäußert. Sie will in den neuen Bezirken regionale Gesundheitskonferenzen installieren, also alle Beteiligten an einen Tisch holen. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Das ist richtig, aber nicht neu. Bezirkliche Gesundheitskonferenzen, die ja gesetzlich vorgeschrieben sind, gibt seit 1994. Es ist aber positiv, dieses Instrument zu stärken, besonders wenn dort nicht nur analysiert werden soll, sondern auch gesundheitspolitische Ziele formuliert werden.

Wichtig ist, dass diese Ziele mit der Bevölkerung und den zuständigen Einrichtungen diskutiert werden und die mit ins Boot geholt werden, die die Ziele umsetzen sollen.

Wie sehen solche Gesundheitsziele aus?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Die Gesundheitsämter präferieren Ziele, die auf Medizin und das Verhalten des Einzelnen abzielen, wie Impfungen oder Beratungen bei Übergewicht.

Andere wie zum Beispiel das Gesunde-Städte-Netzwerk der Weltgesundheitsorganisation zielen eher auf die Rahmenbedingungen, nämlich den Faktor Gesundheit bei Stadtentwicklung, Verkehrsplanung oder Arbeitslosigkeit einzubringen. Diese Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen sollte die Diskussion um gesundheitspolitische Ziele bestimmen.

Wie können die Gesundheitsämter oder die Gesundheitskonferenzen auf solche Rahmenbedingungen Einfluss nehmen?

Ein Beispiel: In Tiergarten, wo es eine sehr hohe Quote von Verletzten im Straßenverkehr gibt, könnte die Verkehrsverwaltung in die Gesundheitskonferenz einbezogen werden und man könnte gemeinsam festlegen: Diese Quote wollen wir bis zum Jahr 2005 stark reduzieren. Eine Maßnahme könnte sein, Tempo 50 durch Wohngebiete einzuschränken, denn fast alles Verkehrstodesfälle in Berlin passieren auf Straßen mit Tempo 50.

Interview: SABINE AM ORDE

Hinweis:

Der Arzt Spatz leitet seit 1995 die Plan- und Leitstelle Gesundheit in Hohenschönhausen und organisiert seit fünf Jahren den bundesweiten Kongreß „Armut und Gesundheit“.