Kritischer Geist wieder belebt

Vom Kopf auf die Füße gestellt: Im Reformstudiengang Medizin an der Humboldt-Universität wurde die strikte Trennung von Vorklinik und Klinik aufgehoben. Die Studenten lernen am Patienten – statt an Leichen

von OLE SCHULZ

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, das wusste schon Erich Kästner. Doch manchmal dauert es eine Weile, bis die Saat der Tat aufgeht. Auf den Reformstudiengang Medizin an der Humboldt-Universität trifft beides zu – zurück geht er auf eine Initiative, die während des Uni-Streiks 1988/89 entstanden war.

Medizinstudenten der FU Berlin hatten damals über ihre Utopie eines besseren Lernens in kleinen Gruppen diskutiert und ein achtseitiges Thesenpapier verfasst. Als „Berliner Modell“ wurde es in einer Vollversammlung von 2.500 FU-Medizinstudenten im heißen Dezember 88 mit großer Mehrheit als Reformziel anerkannt.

Lernen jenseits des Frontalunterrichts

Kernpunkte des Manifests waren die Aufhebung der strikten Trennung von vorklinischer Theorie und klinischer Praxis, die Entrümpelung des unüberschaubaren Stoffumfangs der in 44 Lehrfächer gegliederten Medizinerausbildung sowie neue Lernmethoden jenseits des überkommenen Frontalunterrichts. In Projekttutorien, Workshops und Kongressen wurde das „Berliner Modell“ weiter ausgefeilt.

Doch in Deutschland war zu Beginn der 90er-Jahre die Zeit noch nicht reif, die verstaubte Ausbildung der Mediziner grundlegend zu reformieren. Erst nach dem Regierungswechsel konnte die AG Reformstudiengang die neue Gesundheitsministerin Andrea Fischer davon überzeugen, die politische Blockade durch eine simple Verordnung aufzubrechen: Im Februar 1999 brachte Fischer eine Modellversuchsklausel als Einzelparagrafen in der ärztlichen Approbationsordnung durch. Seitdem dürfen die medizinischen Fakultäten neue Lehrpläne erproben.

An der Charité, wo die Medizinstudenten der Humboldt-Universität ausgebildet werden, hatte man schon lange auf diesen Tag gewartet und war bestens darauf vorbereitet. Im vergangenen Semester konnten schließlich die Ersten mit dem Reformstudium beginnen. Der Andrang war groß: Zwei Drittel der Studenten, die im letzten Sommer an der Humboldt-Uni einen Studienplatz für Medizin bekommen haben, hatten sich für den Reformstudiengang beworben. Die Plätze wurden ausgelost, und im Herbst richteten sich 63 Studenten in den neu ausgestatteten Räumen der Zahnmedizin in Berlin-Mitte ein.

Eine erste Zwischenbilanz nach einem Semester fällt positiv aus: „Bisher hat sich das Konzept sehr bewährt“, sagt der Projektleiter Walter Burger. „Das Feedback der Studenten ist ausgesprochen gut“, sagt auch Kai Schnabel, vor allem die intensive Betreuung und die Arbeit in Kleingruppen gefalle ihnen. Bisher seien nur zwei Studenten abgesprungen. Schnabel leitet heute das „Trainingszentrum für Ärztliche Fortbildung“, kurz TÄF, wo die Studenten in ärztlichen Untersuchungs- und Gesprächsführungstechniken geübt werden – 1988 gehörte Schnabel noch zu den Studenten, die für eine Reform der Medizinerausbildung gestreikt hatten.

Im TÄF lernen die Studenten nun zum Beispiel an Plastik-Dummies, Blut abzunehmen, oder sie trainieren eine Fähigkeit, die vielen altgedienten Medizinern fehlt: mit dem Patienten zu reden und im Team zu arbeiten. Sogar in den Semesterferien haben regelmäßig Studenten im TÄF vorbeigeschaut. „Das selbstverantwortliche Arbeiten scheint zu motivieren“, sagt Kai Schnabel.

Was und vor allem wie die Studenten dort lernen, unterscheidet sich ziemlich fundamental von den gewohnten Lehrinhalten und -methoden – die Berliner Reformer haben die Arztausbildung geradezu auf den Kopf gestellt: Statt erst einmal Leichen zu sezieren, befassen sich die Studienanfänger etwa gleich mit lebenden Patienten und ihren alltäglichen Gebrechen.

Und während Massenvorlesungen nicht nur bei den Medizinern noch heute der Regelfall des Uni-Unterrichts sind, arbeiten die Studenten des Reformstudiengangs in kleinen Gruppen mit einem moderierenden Dozenten. Dabei steht weniger ein fester Wissenskanon im Mittelpunkt, wichtig ist vielmehr der Lernprozess, das Erarbeiten von Fragen und das Erlernen kommunikativer Kompetenzen. Walter Burger spricht von einem „interaktiven Prozess“, der auch den Lehrenden viel Spaß mache. „Pol“ wird diese Methode genannt, problemorientiertes Lernen, ein Konzept, das an Universitäten in den USA, den Niederlanden und in Skandinavien schon seit Jahren erfolgreich praktiziert wird.

Wöchentliche Hospitanz bei niedergelassenen Ärzten

Die strikte Unterteilung von Vorklinik und Klinik wird nicht nur dadurch ausgehebelt, dass die Studenten von Anfang an mit Dummies und Simulationspatienten arbeiten oder sich gegenseitig untersuchen; auch tatsächlich Kranke bekommen sie vom ersten Semester an zu Gesicht: während des wöchentlichen Praxistages bei einem niedergelassenen Arzt.

Es gebe zwar immer noch Widerstand aus den eigenen Reihen, räumt Schnabel ein. „Wir sehen es aber als Herausforderung an, diese kritischen Geister zu überzeugen.“ Dazu dient auch die Evaluierung des Studiengangs durch externe Experten der Unis Stockholm, Maastricht und London. „Wir wollen nachweisen, dass das, was wir tun, auch gut ist.“

Zunächst wird der Reformstudiengang acht Jahre laufen; für fünf Jahre ist die Finanzierung gesichert, bevor 2004 die endgültige Entscheidung gefällt wird. Dann werden die Berliner Pioniere sicherlich nicht mehr die einzigen in Deutschland sein: Denn außer an der Privatuni Witten/Herdecke sollen auch an anderen öffentlichen Universitäten – wie in Hamburg und München – bald ähnliche Reformstudiengänge anlaufen.