: Frisch geföhnt zur Straßenschlacht
Die „Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“ in Berlin-Kreuzberg geht in die dreizehnte Runde. Doch mit den Autonomen hat das krawallträchtige Pop-Event nur noch so wenig zu tun wie die CDU von Angela Merkel mit der von Helmut Kohl
von ANDREAS SPANNBAUER
Die Revolution, das wusste schon Mao Zedong, ist kein Deckchensticken. Schon gar nicht im digitalen Zeitalter. Wo im vergangenen Jahrhundert mit den immergleichen Bildern von fahnenschwenkenden Demonstranten für den „Revolutionären 1. Mai“ in Berlin geworben wurde, findet sich dieses Jahr nur eine schlichte Hommage an das Imperium von Bill Gates und den Wahlkampf von Jürgen Rüttgers. „Sie können Deutschland jetzt ausschalten“, leuchtet es – in Anlehnung an die bekannte Desktop-Anzeige von Windows 95 – in orangefarbenen Lettern von Plakaten an Kreuzberger Häuserwänden.
Die „Revolutionäre 1.-Mai-Demo“, entstanden aus einer Straßenschlacht zwischen militanten Autonomen und der Polizei im Jahr 1987, geht in die dreizehnte Runde. Doch mit der Bewegung der Autonomen, die das krawallträchtige Event einst ins Leben riefen, hat der „Revolutionäre 1. Mai“ heute noch weniger zu tun als die CDU von Helmut Kohl mit der von Angela Merkel. Längst ist aus dem 1. Mai eine Art Polit-Rave geworden, eine hoch explosive Love Parade für Parteigänger der radikalen Linken, die in den Straßenschlachten mit der Polizei eine Art Bungee-Jumping mit Sinnstiftung finden.
Ein Angebot, das sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erfreute. 364 Tage im Jahr bewegen sich die Teilnehmerzahlen linker Demonstrationen nahezu unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Am traditionellen Feiertag der Linken versammelten sich letztes Jahr über 15.000 Menschen auf dem Kreuzberger Oranienplatz – mehr Anhänger brachte nicht einmal der DGB auf die Beine. Inzwischen parodieren selbst die Veranstalter die überraschende Beliebtheit des Events. So ist die Schlagzeile eines Flugblattes einem Werbespot der Telekom entliehen: „1. Mai ey ... Da stehste doch drauf!“
Für viele Unzufriedene, die ansonsten von der zersplitterten radikalen Linken wenig wissen wollen, ist der 1. Mai der einzige Tag, an dem sie ihrer Unzufriedenheit medienwirksam und massenhaft Ausdruck verleihen – eine Art Protestwahl ohne Wahlurne.
Vor allem aber ist die 1.-Mai-Demonstration keine normale Demonstration, sondern ein „linkes Kulturevent“, wie die Veranstalter von der Antifaschistischen Aktion Berlin selbst betonen. Modernität und Pragmatismus prägen das Bild. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich – wie am 1. Mai 1993 – Autonome und Maoisten gegenseitig mit Eisenstangen die vermeintlich falsche politische Linie aus dem Leib prügeln wollten. Längst ist Politik auch für die radikale Linke die bewusste Inszenierung eines Happenings geworden: Che Guevara meets Stefan Raab und Arabella Kiesbauer. Statt langatmige Redebeiträge zu verlesen, mimten die Sprecher der Demonstranten letztes Jahr auf der Bühne eines 15 Meter langen Sattelschleppers die Talkshow-Moderatoren und probten mit dem Publikum lustige Frage-Antwort-Spielchen. Dem Ausbruch der obligatorischen Straßenschlacht tat das keinen Abbruch.
Der neue Pragmatismus findet in der Kleiderordnung seinen Ausdruck. Statt Springerstiefel und Palästinensertuch, den Insignien der Vergangenheit, trugen die Demonstranten in den vergangenen Jahren körperbetonte, modische Markenkleidung, die sich auch in den schnieken Diskotheken der neuen Mitte sehen lassen könnte. Der Mode-Nihilismus der Autonomen, Symbol für die selbst gewählte Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft, wird von den Jungen höchstens noch als Distinktionsgewinn belächelt. Statt konspirativer schwarzer Kapuzenpullover kleidet sich der 1.-Mai-Demonstrant von heute in Carhartt-Hosen, Adidas-Jacken und Puma-Sneakers.
Das Ziel heißt nicht länger „Schaffung autonomer Freiräume“, sondern Sturm in die Hitparaden. Den Weg weisen die britischen Anarcho-Popper Chumbawamba oder die Stuttgarter Politrapper Freundeskreis, deren Stücke politische Botschaften transportieren und trotzdem als Chartbreaker auf MTV laufen. Erfolg im Berufsleben ist bei der postmodernen Protestgeneration nicht länger verpönt, selbst wenn man nach Feierabend für die Abschaffung des Kapitalismus auf die Straße geht. Wo früher die Verfassungsschutzbehörden die Autonomen bezichtigten, von „Staatsknete“ zu leben, ist heute einzelnen Aktivisten sogar der Weg zum Arbeitsamt zu unergiebig. So suchte sich der 25-jährige Layout-Experte Wolfgang K., der das Pop-Event 1. Mai seit Jahren mitorganisiert, lieber gleich einen neuen Job, statt sich arbeitslos zu melden: Die Wartezeiten bei der Behörde waren ihm einfach zu nervenaufreibend.
Jung, dynamisch, erfolgreich, lautet das Credo der Szene. Da ist selbst der Besuch von Solarium und Fitness-Studio kein Tabu mehr, wie ein Szene-Aktivist aus Kreuzberg stolz mitteilt – das Auge demonstriert schließlich mit. Nicht zufällig vergleichen die Veranstalter den linksradikalen Rundumschlag ausgerechnet mit der unpolitischen Love Parade. Nur wilder, politischer und womöglich auch noch lauter soll der 1. Mai sein. „Unsere Lautsprecheranlage hat 15.000 Watt, mehr als die auf den Wagen auf der Love Parade“, sagt Organisator Wolfgang K. zufrieden. Auf der Website www.antifa.de wurde die Liebe sogar Wirklichkeit: Per Kontaktanzeige suchte ein junger Mann nach dem Mädchen seiner Träume, das er auf der Demonstration gesehen hatte.
Einigen Alteingesessenen allerdings wird das bunte Treiben längst zu bunt. Im Szene-Magazin Interim beklagten unbekannte Autoren unter der Überschrift „1. Mai don’t goes pop“ eine Entpolitisierung des Kampftages. Der 1. Mai verkomme zu einem „sinnentleerten Sich-selbst-Abfeiern“. So genannte „Inhalte“, beschwerten sich die autonomen Spaßbremsen, seien in den letzten Jahren immer mehr „zu Parolen verkürzt“ worden.
Besonders sauer ist den Kritikern ein Auftritt der Techno-Anarchisten Atari Teenage Riot im Vorjahr aufgestoßen. Die Musiker zelebrierten nicht nur auf dem Lausprecherwagen unter der Parole „Deutschland has got to die“ ihre Live-Show, sondern nutzten die Gelegenheit auch noch zur Produktion eines Videos, Bilder einer originalen Straßenschlacht inklusive. Am Ende landete die Band im Polizeigewahrsam. Auf den „riot sound“ (Selbstbeschreibung Atari Teenage Riot) muss trotzdem keiner verzichten: Frontmann Alec Empire will auch dieses Jahr wieder über die Bühne des Lautsprecherwagens wirbeln. Dass sogar über einen Auftritt der US-Kultband Rage Against The Machine gemunkelt wurde, tat sein Übriges, um den Kulturkampf in der autonomen Szene zu entfachen.
Die Pop-Fraktion schlägt inzwischen zurück. Auf kleinen Werbehandzetteln, mit denen zur Demo aufgerufen wird, ist der Schlachtruf der Party-Guerilla nachzulesen: „Gegen den Staat, denn wir sind gut drauf!“ Das anschließende Parolenpotpourri („Die Reform ist uns scheißegal und die Arbeit ham wir satt“) dürfte auch bei Anhängern des Big-Brother-Helden Zlatko auf Zustimmung stoßen.
Die Polizei will den popkulturellen Siegeszug der 1.-Mai-Demonstration mit der Entwicklung innovativer Aufstandsbekämpfungsstrategien beantworten. Die Behörde fragte – allerdings erfolglos – bei der Punk-Band Tote Hosen um einem Auftritt am 1. Mai an. Bei den Demo-Organisatoren sorgte der Plan nur für Amüsement. „Ist doch schön, wenn uns die Polizei die Arbeit abnimmt“, sagt einer der Veranstalter gelassen.
Selbst die politische Botschaft hat sich reichlich gewandelt. Wo sich die Autonomen stets über die „zunehmende Inhaltslosigkeit“ erregt hatten, gestehen die Autoren eines Aufrufs der Antifaschistischen Aktion Berlin freimütig ein, der 1. Mai sei „sinnentleert im besten Sinne“. Der fast schon nihilistisch anmutende Nachsatz lautet: „Keine Sinnstiftung für Volk und Nation, Arbeit und Kapital zu betreiben, ist die schärfste Absage an die kapitalistische Gesellschaft.“ Der 1. Mai stehe daher für eine „radikale Gesellschaftskritik jenseits von Standortlogik und Interessenvertretung“. Die Parolen, die dieses Anliegen zum Ausdruck bringen sollen, sind durchaus ernst gemeint. Nur werden sie von denen, die sie rufen, nicht mehr ganz so ernst vorgetragen. Weltrevolution? Ja, sicher. Oder auch nicht.
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