Ein gutes Stück vorangekommen

■ Das Kunstwerk im Zeitalter der brennenden Gegenwartsfragen am Beispiel eines Diptychons zum Besuch von Innen- und RechtspolitikerInnen der Bremer CDU im Grundbuchamt / Eine Bildbetrachtung nebst genauer Erläuterung anhand einer Legende

Oft werden bildende Künstler mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien nicht auf der Höhe der Zeit. Die Maler mit ihren Pinseln, die Fotografen mit ihren Fotoapparaten und auch die Installationskünstler mit ihren Installationsmaterialien, so die Kritiker weiter, interessierten sich nicht für die alle bewegenden Fragen der Gegenwart wie Globalisierung, Digitalisierung, Bevölkerungsexplosion und die Zukunft des Generationenvertrages. Doch plötzlich gibt es dieses Diptychon. Ganz so, als wolle er alle Kritiker Lügen strafen, hat der anonyme Schöpfer dieses Kunstwerkes zu den Fragen der Zeit auf eine aufregende Weise Stellung genommen.

„Ein gutes Stück vorangekommen“, nennt er sein Meisterwerk. Es zeigt offenbar honorige Personen. Sie strahlen Würde und Bedeutung aus. Es sind, so erfahren wir aus den Titelangaben, Mitglieder des Rechts- und Innenausschusses der CDU-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft beim Besuch des Grundbuchamtes. Sie versammeln sich auf beiden Teilen des Diptychons um ein Werkzeug in der Bildmitte. Das offenbar ältere der beiden Werkzeuge trägt deutliche Spuren des Gebrauchs, ja, es wirkt regelrecht abgenutzt. Das andere, das neue auf dem zweiten Teil des Diptychons, das die Begrenzungen des Bildes auf der linken Seite sprengt, ist dagegen ungebraucht. Es geht, so ist unschwer zu erkennen, um eine technische Neuerung.

Ist der Mensch nicht erst durch den Gebrauch von Werkzeugen vom Tier zu unterscheiden? Und ist es nicht die Herstellung immer neuer Werkzeuge und technischer Apparate, die den menschlichen Alltag immer weiter verändert, seit unsere Urahnen vom Baum hinabgestiegen sind und im aufrechten Gang die Savanne erkundet haben? Der Schöpfer dieses Diptychons erinnert daran auf eindrucksvolle Art, indem er das Alte – eine Siegelpresse – und das Neue – den Teil einer Computeranlage –, das Vernutzte und das Ungebrauchte jeweils ins Bildzentrum stellt.

Der Weg aus der Savanne führt in einen vor Wind, Wetter und wilden Tieren geschützten Innenraum. Darin stehen die Menschen. Auf den ersten Blick strahlen sie Zuversicht aus. Sie lächeln, ja, lachen sogar. „Fürchtet euch nicht“, scheinen sie sagen zu wollen, „denn bei uns ist alles in guten Händen.“ Augenfällig wird dies durch den Mann im hellen Jackett (laufende Nummer 7), der auf dem „alten Bild“ beherzt nach der Siegelpresse greift und auf dem „neuen Bild“ die rechte Hand auf den rechten Computerbildschirm legt. Er hat augenscheinlich eine zupackende Art, darf sogar als Tatmensch gelten und kann, weil er beide Geräte berührt, unschwer als bedeutendste Person identifiziert werden. Er allein darf – wenn auch verdeckt – auf dem „Bild Computer“ die Frau (2) berühren. Das ist ein Zeichen besonderer Ehre. Doch was mag in ihr vorgehen? Als Frau völlig allein unter Männern? Sind ihr Ausdruck und ihre Haltung Zeichen des Glückes?

Das genaue Hinsehen lohnt sich. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter nämlich, dass im Fortgang des Geschehens vom „Bild Siegelpresse“ zum „Bild Computer“ etwas nicht stimmt. Es hat sich nicht nur die Gruppierung der Personen geändert, sondern auch ihre Zahl. Nur ein einziger Mann (4) – der ergraute hinten – wirkt unberührt von der technischen Revolution: In der Mimik unverändert steht er da wie ein Fels in der Brandung. Das ist genauso wie die unterschiediche Aufstellung der Personen ein geschicktes Ablenkungsmanöver des Künstlers. Denn eine kleine Katastrophe ist geschehen: Der Vierte von rechts auf dem „Bild Siegelpresse“ (6) tritt auf dem „Bild Computer“ nicht wieder auf. Er ist spurlos verschwunden. Dagegen betreten zwei andere Herren die Bühne.

In unserer schnelllebigen Zeit, so macht uns der Künstler auf hintergründige, aber unmissverständliche Weise deutlich, gibt es Modernisierungsopferund -gewinner. Er stellt sein Werk deshalb in einen größeren, fast epochalen Zusammenhang. Zwischen Wildnis und Grundbuchamt liegt eine lange Strecke. Gemessen an der Herkunft des Menschen aus der unvermessenen Natur ist ein Gipfel der Entwicklung erreicht, und doch ist es nur eine von vielen noch kommenden Stationen. Wir sind eben „Ein gutes Stück vorangekommen“, aber wie viel Wegstrecke mag noch vor uns liegen? ck