Cem Özdemir liebt Tina Tortellini

Norbert „Blümchen“ Blüm präsentiert sich bei einer Kinderbuchlesung als trainierter Vorleser, wie ihn sich Özdemir gewünscht hätte

Das Schöne an Kinderbüchern ist, dass sie übertreiben. Da können Tiere einfach vorlaut die Teigschüssel unter Verschluss halten, da werden kleine Mädchen vom Zirkus zu großen Helden, die keck die Probleme der Erwachsenen lösen. Und manchmal gibt es auch kleine Philosophen, die einem die Welt erklären, wie der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry.

Und das tun dann auch gelegentlich die eigenen Kinder, zumindest die des Schauspielers Ulrich Mühe. „Jeden Abend kommen meine Kinder schon mit dem Buch angelaufen, das ich ihnen vorlesen soll, oft ist es der Kleine Prinz“, erzählt der Schauspieler, der in der DDR zu den Stars am Deutschen Theater in Berlin gehörte und in der TV-Serie „Der letzte Zeuge“ den Gerichtsmediziner spielt. Und auch vor den Kindern in der Buchhandlung Kiepert las er eine Passage aus dem Kleinen Prinzen. Die ungewöhnliche Lesung fand anlässlich des von der Unesco ausgerufenen Welttages des Buches am 23. April statt.

Aber auch der frühere Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) und der innenpolitische Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion Cem Özdemir sowie Wolfgang Völz, die Stimme von Käpt’n Blaubär, trugen Passagen aus ihren Lieblingskinderbüchern vor. Völz präsentierte die 13[1]/2 Leben des Käpt’n Blaubär, sozusagen die Biographie des Abenteuerers in der Nussschale, mit gewohnt hanseatischem Snack in der Stimme.

Blüm, der die Geschichte „Alles wieder gut! Oder wie der Kleine Rabe zu seinem Namen kam“ von Nele Most vielstimmig erzählte, ist schon seit Jahren geübter Vorleser. Noch zu den Zeiten, als er Minister war, hat er selbst eine Märchensammlung für seine Enkel verfasst. „Für mich sind die Märchen eine schöne Gegenwelt zur Politik.“ Für den Ex-Minister gibt es keine Märchen, in denen am Ende nicht alles gut ausgeht. Wenn man Kindern Geschichten vorliest, müssen sie die Bilder im Kopf selbst erschaffen. Das ist für die Entwicklung ihrer Phantasie wichtig. „Und warum haben Sie sich das Buch ausgesucht?“, wollte Moderatorin Antje Kraschinski wissen. „Das Buch spricht die Sprache der Kinder. Es gibt Kinderbücher, da weiß nur noch der Autor, was er eigentlich sagen will“, antwortete Blüm, der sich gern „Blümchen“ nennen ließ und freundlich in die Kinderrunde blinzelte.

Autorin Nele Most erzählte den Kindern dann, wie ihr solche Geschichten einfallen. „Ich schreibe in Wahrheit Geschichten über mich selbst.“ Wenn sie zum Zahnarzt muss, dauert die Verhandlung über die Spritze, die sie so sehr fürchtet, länger als die Behandlung selbst. „Und das kennt doch jedes Kind.“

Cem Özdemir trug eine Passage aus „Tina Tortellini und der Ferienschreck“ von Wolfgang Pauls vor, „einem Mädchen im Wanderzirkus, das ganz schön viel Probleme auf einmal löst“. Özdemir selbst hat erst mit elf Jahren sein erstes Buch gelesen. Bis heute, so meint er, fehle ihm deshalb ein wichtiger Grundstock. „Bei uns gab es zu Hause keine Bücher. Ich habe immer nur Fernsehen geschaut“, erinnert sich der Sohn türkischer Einwanderer an seine Kindheit im schwäbischen Bad Urach. Seine Eltern waren meist „auf Schicht“, da gab es wenig Muße.

Aber das ist ein Problem, das nicht nur den jungen Özdemir betraf: In der türkischen Gemeinde geht die Schere immer weiter auseinander, wie der Abgeordnete beobachtet. Da sind einerseits junge türkischstämmige Erwachsenen, die in der neuen Heimat wirtschaftlich erfolgreich sind und sich ihr zugehörig fühlen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die hier ohne deutsche Sprachkenntnisse leben, aber auch ihre eigene Kultur verloren haben.

Eine Ausnahme waren Özdemirs Eltern nicht: In türkischen Familien sei es normal, dass der Fernseher ständig läuft. „Der ist wie ein Familienmitglied“, sagte Özdemir und erzählte die Geschichte eines Verlustes: Die Erzähltradition, die in Anatolien noch immer lebendig ist, haben die Einwanderer verloren. In der Heimat von Özdemirs Eltern war es früher unmöglich, dass ein junger Mann heiratete, der nicht die Geschichten von Köroglu, dem Sohn des Blinden, erzählen konnte. Das ist denn auch der Grund, warum Özdemir Kinderbücher für wichtig hält: Er will Eltern ermuntern, Geschichten zu erzählen, und die Kinder zum Lesen anregen. Denn wer wäre nicht gerne Tina Tortellini im Wanderzirkus? ANNETTE ROLLMANN