Zerfranste Familienbande

Anke Velmeke beschreibt ihre Figuren so, dass man sich nicht mehr auskennen mag. Ihr Debütroman „Luftfische“ setzt auf kühlen Blick und Verfremdungseffekte – und tut gut daran

von CRISTINA NORD

Am Ende ist das Haus niedergerissen, die Mutter zu Grabe getragen, sind die Kinder fortgezogen. Den Vater hat das Buch aus den Augen verloren, es bleiben einige Tanten und Onkel, die sich zu einem grotesken Familienbild gruppieren. Blitzeis hat die Straßen unpassierbar gemacht, und so müssen sie, wollen sie sich nicht die Knochen brechen, sich mit Hilfe eines Schals fortbewegen: „Schon lag er am Boden, lang hingestreckt, und über ihm schwebte ein Schuh, dann: Schritte, die über ihn niedergingen, Staccatoschritte, die trafen präzis, punktierte Rhythmen, Schritte und Schrittchen.“ Die Tanten und Onkel rollen den Schal wieder ein, werfen ihn wieder aus, und das immer so weiter, im Gänsemarsch den Hang hinauf; „der Schal zerfaserte und zerfranste“ und landet zu guter Letzt im Gebüsch, fortgeworfen wie ein untauglich gewordenes Familienband.

Ein bisschen traurig ist das und deswegen ungewohnt, denn einen traurigen Ton sucht man sonst vergebens in Anke Velmekes Debütroman „Luftfische“. Darin geschieht zwar vieles, was Grund zur Trauer böte: Ein Vater prügelt seine Kinder, eine Mutter schafft sich selbst aus der Welt, indem sie nichts mehr isst, das Geld reicht mal für einen Mercedes, mal fehlt es für die Heizung im Winter. Doch „Luftfische“ nähert sich seinen Figuren und Gegenständen auf eine Art, dass man sich nicht mehr auskennen mag. Was trist ist an den Verhältnissen, in denen Lene, die Hauptfigur, groß wird, spielt ins Komische. Das liegt daran, dass sich „Luftfische“ nur an Oberflächen aufhält. Die wiederum zerlegt der Roman in viele Teile und setzt sie falsch oder unvollständig zusammen – wie den Starschnitt, den Lene aus der Bravo löst, „ein Unterarm, sogar mit Hand, den sie heraustrennte, ausschnitt und an Shaun Cassidys Ellenbogen feststeckte. Kopflos stand der Jüngling vor ihr.“ Später hängt „der Jüngling“ an der Wäscheleine, „echt, nicht papieren, dreidimensional, Fuß neben Schulter“. Traum und Alptraum einer 13-Jährigen.

Velmeke setzt auf Verfremdungseffekte, und sie tut gut daran. Was geschieht, wenn man die Dinge ganz genau betrachtet? Erkennt man sie wieder, wenn man beim Offensichtlichen verharrt? Erfährt man dabei etwas, was über das Offensichtliche hinauswiese? Wenn der Vater die Kinder schlägt, heißt es: der Mann „zückte den Zollstock, mit dem er die Strafe bemaß, also schlug, Schlag um Schlag, dahin, wo das Kind war.“ Wohin sonst? Warum nicht in die Luft?

Ein Innenleben haben die Figuren, wenn überhaupt, nur im Subtext. Nicht, dass man den nicht entschlüsseln könnte. Man stieße dann auf die Magersucht der Mutter oder darauf, wie sie zunächst als Komplizin des prügelnden Vaters auftritt und später auf die Seite der drei Kinder wechselt. Was Velmeke in Augenschein nimmt, ließe sich demnach ohne Mühe übertragen in psychologische Begriffe. Man muss aber nichts übersetzen, und vielleicht sollte man es auch gar nicht, weil die Eckdaten, die dabei herauskämen – misshandelnder Vater, zerüttete Ehe, Trennung, Geldnot –, sich ohne die Verfremdung nur zu einer Betroffenheitsstory fügen ließen.

Davon ist „Luftfische“ weit entfernt. Statt Mitgefühl herrscht ein kühler Blick. Neugierig zwar, aber unbeteiligt, wie auf eine mathematische Versuchsanordnung. Und weil Velmeke es mag, wenn sich ihre Erzählverfahren im Text in Form handfester Beispiele ablagern, beschäftigt sich Lene tatsächlich mit Mathematikhausaufgaben. Oder man stößt auf Oberflächen, die sich geometrischen Mustern folgend anordnen. Etwa wenn die Verwandtschaft nach der Beerdigung der Mutter im Wirtshaus zusammensitzt: „Und gähnen, die Arme über den Tisch gestreckt, spitzwinklig wie die Kleiderausschnitte, die Zeiger der Uhr, die sich berührten und spreizten, zu stumpferen Winkeln und überstumpfen.“

Die Kinder reagieren auf die Misere, indem sie fortziehen, sobald sie alt genug sind. „Hannes und Lene spannten Entfernungen zwischen sich und die Stadt, schoben Gleiskilometer nach hinten und hintereinander, folgten Kabeln und Mittelstreifen, geradeaus, auch schräg links, zumeist aber geradeaus. Hinter ihnen schrumpfte die Stadt bis zur Unkenntlich- und Unauffindbarkeit.“ Dasselbe geschieht mit der Familie. Abgezeichnet hat sich diese Trennung längst: Einmal, bei einem Spaziergang während eines Campingurlaubs am Strand – nicht zufällig ist es immer zu kühl in diesen Ferien –, läuft die vielleicht 14-jährige Lene neben der Mutter. Auf dem Rückweg tritt sie „in die eigenen Fußstapfen“, nicht in die der Mutter.

Anke Velmeke: „Luftfische“. C. H. Beck, München 2000, 156 S., 34 DM