Für immer Betriebswirt

Ein neues Menschenbild setzt sich durch: das des Lebensunternehmers. Handle immer ökonomisch, auch im Alltag, so lautet das Motto. Das gefährdet die Zivilgesellschaft
von HANNES KOCH

Zur besten Fernsehsendezeit, abends gegen acht, zeigt sich, was wichtig ist oder was wichtig wird. Interessanter als die Tagesschau ist oft die Werbung davor. Die bürgerlichen Produkte und Träume wie Einbauküchen und Bausparverträge bekommen Konkurrenz. Seit kurzem gibt es Werbespots, die ein völlig anderes Lebenskonzept transportieren. Ein am ganzen Körper grün beschmierter Mensch bekennt: „Ich will in Algen investieren.“ Eine 25-Jährige mit zotteligem Mantel und hektischem Blick „investiert in Geschwindigkeit“.

Die Spots stammen von Banken oder Brokern, die Aktien übers Internet verkaufen. Die Protagonisten bekennen sich dazu, Unternehmer zu sein – und gleichzeitig sind sie doch nur Herr X oder Frau Y von der Straße. Sie investieren, achten auf Kurse und Bilanzen, sie kennen den Markt – jedoch nicht im professionellen Sinne, sondern in einem alltäglichen. Vielleicht arbeiten sie als Lehrer und Krankenschwester, doch es macht ihnen offenbar Spaß, in ihrer Freizeit über Geschäfte nachzudenken. Nicht nur im Büro, der Klasse oder auf Station verhalten sie sich ökonomisch, rationell und effektiv, sondern immer, zu jeder Zeit. Diese Menschen betrachten ihr ganzes Leben als Geschäft: Sie sind Lebensunternehmer.

Seit kurzer Zeit greift dieses Lebenskonzept mit erstaunlicher Geschwindigkeit um sich. Das hängt zum einen mit der Liberalisierung zusammen – jener Form staatlicher Politik, die größere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens entregelt und dem freieren Spiel der Marktkräfte überlässt. Noch vor fünf Jahren regierte zum Beispiel die monopolistische Telekom unangefochten über die Telefonleitungen; dass man einmal zwischen 30 verschiedenen Anbietern von Telefontarifen wählen können würde, war undenkbar. Heute tut man gut daran, sich eingehend zu informieren, damit die konkurrierenden Firmen einen nicht über den Löffel balbieren. Ökonomisches Denken und Preisvergleich sind neuerdings in einer Sphäre gefragt, die früher davon völlig unberührt war: im Alltag.

Auch beim Strom muss, darf, soll man sich seit ein paar Monaten nun entscheiden. Mehrere hundert Unternehmen liefern gerne zu unterschiedlichen Preisen. Wem den Zuschlag geben? Früher lagen die Preise der Energie unverrrückbar fest, nun wird die Stromrechnung zum Gegenstand einer alltäglichen Betriebswirtschaftslehre. „Wie viel kann ich hierbei sparen, was nützt mir jener Tarif auf lange Sicht?“, fragen sich die MieterInnen, die ihren Haushaltsetat neu berechnen. Der Strom wird nicht die letzte Bastion der Alten Welt sein, die fällt. Als Nächstes kommt das Gas, dann wahrscheinlich das Trinkwasser. Die Sphäre, in der vom Individuum beeinflussbare Kosten und Nutzen entstehen, dehnt sich mehr und mehr aus.

Die neuartige ökonomische Definition der Dinge bezieht sich freilich nicht allein auf die liberalisierten Märkte und ihre Produkte, sondern hält auch dort Einzug, wo die Menschen sich nicht notwendigerweise betriebswirtschaftlich verhalten müssten. Zwar stellt der Akt des Warenkaufs im Geschäft einen durch und durch ökonomischen Vorgang dar, doch das Verhältnis zwischen Verbraucher und Verkäufer muss nicht unbedingt davon betroffen sein. Früher ging man in einer Art intuitiver Solidarität davon aus, dass die Angestellten hinter dem Verkaufstresen sich in einer ähnlichen, lohnabhängigen Lage befänden wie man selbst. Auch an dieser Stelle ist mittlerweile eine Differenzierung eingetreten: Heute werden VerkäuferInnen als Dienstleister eingestuft. Umgekehrt ist der Kunde, der früher nur König war, heute Gott. Er darf alles verlangen: höchste Qualität bei freundlichster Miene zum niedrigsten Preis in der kürzesten Zeit. Diese pervertierte Haltung hat zur Folge, dass das kurze Schwätzchen der Verkäuferin mit einer alten Kundin den Wartenden als Sakrileg wider die Dienstleistungsgesellschaft erscheint.

Das hat seine Gründe. Der Mensch ist heute ein Betrieb – und als solcher muss er mit seiner Zeit effektiv umgehen. Die Produktivkraft soll jederzeit produktiv sein, damit sie sich gut verkauft. Es gibt also viel zu tun. Da mag man nicht zwei Minuten in einer Schlange stehen. Denn Zeit wird zunehmend knapper. Unternehmen dehnen die Arbeitszeit wieder aus, anstatt sie zu verkürzen: Die Beschäftigten des Baukonzerns Holzmann arbeiten fünf Stunden pro Woche länger – unbezahlt. Die Anforderungen ziehen an, was die verbleibende Freizeit noch wertvoller und schützenswerter macht. Abends wartet der Zweitjob oder – Stichwort „lebenslanges Lernen“ – die Fortbildung per Internet.

Gegenwärtig freilich dürfte das, was gemeinhin als „Aktienkultur“ bezeichnet wird, den wesentlichen Beitrag zur Ökonomisierung des Lebens leisten. Vor Jahren noch galten Sparkonto, Bausparvertrag und Lebensversicherungen als vernünftige Geldanlagen. Jetzt stecken viele Leute all ihr Geld in extrem risikoreiche Wettscheine – „Aktien“ genannt. Diese moderne Geldanlage stellt in vieler Hinsicht ein ungleich größeres Wagnis dar – denn eine derartige Investition hat unter Umständen üble Konsequenzen. So kann die ganze Kohle durchaus von einem Tag auf den anderen im Zuge eines Kursrutsches durch den Schornstein gehen. Damit verrauchen Lebenschancen: das Studium der Kinder, die eigene Rente oder auch nur das geplante Sabbatjahr. Wer Aktien kauft, trägt eben ein höheres, unternehmerisches Risiko als der, der in einen Bausparvertrag investiert. Bausparverträge schaffen Wohlstandsbürger, Aktien Lebensunternehmer.

Das muss nicht heißen, dass die Gesellschaft vollends in 80 Millionen Einpersonenbetriebe zerfällt. Ökonomischer Egoismus mündet nicht automatisch in die Vereinzelung des Individuums: Auch Unternehmer schließen sich gelegentlich zusammen. So sind gegenwärtig neue Vergesellschaftungsprozesse zu beobachten. Noch nie zuvor konnten VerbraucherInnen organisierten Einfluss auf die Energieproduktion nehmen. Jetzt geht das: Zu tausenden kündigen StromkundInnen ihre Verträge mit RWE und den anderen Konzernen, wechseln zu Öko-Strom-Firmen und brechen mit der alten, umweltschädlichen Energiepolitik.

Der gegenläufige Trend dürfte sich freilich langfristig als stärker erweisen. Wer auf ganzer Linie dem sanften Zwang zur betriebswirtschaftlichen Effektivität ausgesetzt ist, muss auf die Dauer fragen, ob sich Engagement für die Gemeinschaft noch rentiert. Heute sammeln die ehrenamtlichen Mitglieder der Berliner Tafel überflüssige Lebensmittel in Hotels ein, um sie an Obdachlose weiterzugeben. Werden sie das auch noch tun, wenn sie mehr Zeit brauchen, um mit Aktienspekulation ihre Rente zu verdienen, weil das Geld nicht mehr automatisch überwiesen wird? Manche Leute schwimmen immer gegen die Strömung, egal was passiert. Doch die Strömung nimmt zu. Damit unterspült sie die Zivilgesellschaft – jene in den vergangenen Jahren mit so viel Hoffnung beobachtete Sphäre gesellschaftlichen Handelns, die auf Verantwortung für die Gemeinschaft und Selbstorganisation der Individuen basiert.

Hinweise:Der Mensch ist heute ein Betrieb – und muss effektiv mit seiner Zeit umgehenÖkonomischer Egoismus mündet nicht automatisch in Vereinzelung