Von Demütigung bis Deportation

Die französische Mattéoli-Kommission gibt Empfehlungen zur Aufarbeitung des Unrechts an Juden während des Zweiten Weltkriegs

aus Paris DOROTHEA HAHN

56 Jahre nach der Libération verfügt Frankreich seit gestern über die erste umfassende Dokumentation der wirtschaftlichen Vernichtung der Juden in den Jahren des Vichy-Regimes und der deutschen Besatzung. Der „Mattéoli-Bericht“ rekonstruiert auf über 3.000 Seiten einen Mechanismus, der in der Behördensprache zwischen 1940 und 1944 „Arisierung“ hieß und der mit dem Entzug der Bürgerrechte begann und über Beraubungen, Plünderungen und Zwangsverkäufe hin zur Deportation in die Vernichtungslager führte. Der noch von dem konservativen Premierminister Alain Juppé in Auftrag gegebene Bericht endet mit 19 Empfehlungen an die Politik. Sie reichen von individuellen Entschädigungen bis hin zur Einrichtung einer nationalen „Erinnerungsstiftung“.

Die zehn Mitglieder der Kommission, darunter sechs Historiker und mehrere Sprecher jüdischer Organisationen in Frankreich, hatten eine Titanenarbeit an Tausenden von verschiedenen Quellen zu erledigen. In neun thematischen Arbeitsgruppen – unter anderem zur „wirtschaftlichen Arisierung“, zu den „Gütern, die in den Internierungslagern beschlagnahmt wurden“, zur „Aufarbeitung von offiziellen Texten“ zu „Autorenrechten“ und zum „Umgang mit Kunstwerken“ – versuchten sie in den vergangenen drei Jahren ein Maximum an Informationen zu sammeln. Nicht alle Berufsverbote für die jüdische Bevölkerung und nicht alle Branchen konnten detailliert untersucht werden. Aber fast überall wo sie vorstellig wurden, bekamen die Kommissionsmitglieder die gewünschten Auskünfte. Mit drei schwergewichtigen Ausnahmen: Die Verzeichnisse über den enteigneten ländlichen Besitz sind bis heute verschollen, und mehrere Banken und Versicherungen lehnten jede Zusammenarbeit ab. „Der Bericht“, so warnte der Kommissionspräsident und Ex-Arbeitsminister Jean Mattéoli gestern vorsorglich, „ist nicht vollständig.“

Manche Empfehlungen der Mattéoli-Kommission sind bereits umgesetzt. So werden seit einigen Monaten individuelle Entschädigungsanträge von Überlebenden und Nachfahren von Opfern zentral bearbeitet. Die von dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin eingerichtete „Drai-Kommission“ hat seither bereits 4.500 Anträge entgegengenommen. Anderswo wird hingegen weiterhin verschleppt. So bei der im vergangenen November von Jospin versprochenen Entschädigung an die 10.000 jüdischen Waisenkinder, die die Shoah in Frankreich hinterließ. Der Anwalt und Gründer eines Verbandes von Angehörigen der Shoah-Opfer, Serge Klarsfeld, mahnte am Wochenende erneut, dass keine Zeit mehr zu verlieren sei und endlich das entsprechende Dekret veröffentlicht werden müsse.

Die Gründung der Mattéoli- Kommission war überhaupt erst möglich geworden, nachdem im Juli 1995 der Neogaullist Jacques Chirac als erster französischer Staatschef eine Mitverantwortung Frankreichs für die Shoah anerkannt hatte. Der seither initiierte Prozess einer Shoah-Bewältigung à la française stand anfänglich unter heftigem Beschuss des US-amerikanisch dominierten jüdischen Weltkongresses, der ein härteres Vorgehen gegen den französischen Staat sowie globale Entschädigungssummen vorzieht. Doch die große jüdische Gemeinde in Frankreich reagierte reserviert auf die US-amerikansiche Kritik. Gestern lobte Henri Hajdenberg, Präsident des „Vertretungsrates der jüdischen Institutionen in Frankreich“ (Crif) ausdrücklich die Arbeit der Mattéoli-Kommission. Den Weltrat hatte Hajdenberg bereits vor Monaten selbstbewusst gemahnt: „Wir können unsere Interessen sehr gut selbst vertreten.“