Eine Schule, schön wie der Ku’damm

Die Siebtklässler der Sophie-Charlotte-Oberschule träumen von einer richtig gut ausgestatteten Schule. Aber der Geheimtipp unter den Berliner Gymnasien ist so wie Pennen hierzulande sind: Mäßige Ausstattung, demotivierte Lehrer

von CHRISTIAN FÜLLER

Die Berliner Sophie-Charlotte-Oberschule liegt nahe dem schicken Ku’damm. Gleich um die Ecke kauft man Täschchen von Prada oder Jil-Sander-Anzüge zu 2.195 Mark. Alles schnieke und piekfein – bis man das schwere Holzportal der Schule nebenan aufdrückt. Hier beginnt eine andere, eine ganz und gar unschnieke Welt.

„Schulfremde Personen bitte im Sekretariat melden.“ Ein Schild muss an der Pförtnerloge den Weg weisen, weil ein Pförtner darin nicht sitzt, sondern der Hausmeister seinen Werkraum betreibt. Durch die Scheibe blickt man auf Materialkisten, reparaturbedürftige Stühle und allerlei anderen Krimskrams. Auch der schummerige Flur erinnert so gar nicht an das Ambiente, das die Namenspatronin der Schule pflegte, die Preußenkönigin Sophie Charlotte.

„Wir könnten uns Lehrer suchen, die zu uns passen“

Nein, erklärt der stellvertretende Rektor der Sophie-Charlotte-Oberschule (SCO), „ich kann doch keine Empfangsdame einstellen!“ Christoph Schmerling versteht gar nicht, wie man so eine laienhafte Frage stellen kann. Er ist zwar Rektor im Schulgebäude in der Charlottenburger Sybelstraße. „Aber für einen Pförtner kriege ich keine Mittel.“ In Holland , ja, da würde das gehen, auch in England. Und dann träumt der Mathematik- und Physiklerher eine Sekunde lang. „Dann könnte die Schule ihr eigenes Profil weiter schärfen“, schwärmt Schmerling. „Und wir könnten uns die Lehrer aussuchen, die zu uns passen.“

Darum aber, um Träume geht es hinter den Mauern des SCO nicht. Vergangene Woche haben Berlins Lehrer gestreikt. 12.000 von über 30.000 Berliner Pädagogen waren in den eintägigen Ausstand getreten, weil der Schulsenator Klaus Böger, ein Sozialdemokrat, ihnen eine Stunde Mehrarbeit aufbrummen wird. Zehntausende von Eltern und Schülern haben daraufhin gegen die Bildungsmisere als solche demonstriert. Und für Rektor Schmerling ist der Job schwerer geworden.

Mit Hilfe komplizierter Zahlenkolonnen versucht der Rektor deutlich zu machen, wie das Lehrdeputat seiner Schule zustande kommt. Zu deutsch: wie viel Unterricht er und seine Kollegen geben müssen. Das Ergebnis lautet ungefähr so, dass die Lehrer an der Sophie-Charlotte normalerweise 23 Stunden pro Woche Unterricht geben. In der Regel kommt jeder Kollege noch auf drei zusätzliche Stunden Einsatz – für kranke Kollegen. Seit einigen Jahren müssen die Gymnasiallehrer ohnehin zwei zusätzliche zwei Stunden auf ein Zeitkonto arbeiten – und nun addiert sich Bögers Maßnahme hinzu.

Kurz gesagt lautet das Ergebnis: Er, Rektor Schmerling, hat auf das Lehrdeputat keinen Einfluß. Es wird von oben, von Landesschulamt und Schulverwaltung ausgerechnet, zugeteilt – und immer wieder mal gekürzt. „Wir müssen die Stunden dann so verteilen, dass der Unterricht korrekt abgewickelt wird.“

Der Job gelingt dem Rektor ganz gut, meint er. Der Unterrichtsausfall in der Schule liege nur bei zwei bis drei Prozent. Dass das nur der Durchschnitt ist, das nichtssagende Mittel, weiß niemand besser als der Lehrer Schmerling, der nur übergangsweise Rektor ist. Der richtige Schulleiter ist ebenso krank wie die zweite pädagogische Leiterin. In der Schulleitung der Sophie-Charlotte liegt der Ausfall bei glatten 50 Prozent.

Dabei ist die 1857 als höhere Töchterschule gegründete Sophie-Charlotte keine Klitsche. Unter den Oberschulen Berlins ist die SCO ein Geheimtipp, ein Gymnasium, das wie das katholisch geleitete Canisius-Kolleg in Tiergarten oder das Steglitzer Beethoven-Gymnasium für die besten Schüler aller Bezirke attraktiv ist. Zum Beispiel wegen des bilingualen Zugs, des zweisprachigen Unterrichts: Ab der siebten Klasse haben die Kids zwei Stunden mehr Englisch, in der achten Biology, ab der neunten Geography in Englisch. Das zieht Schüler aus ganz Berlin an.

Die Schule von Christoph Schmerling steht, im Berliner Vergleich, gut da. Der Pädagogische Koordinator sagt das, die nette Marion Claßen aus dem Schulsekretariat ist davon überzeugt und auch alle anderen Lehrer – sofern man sie nicht nach dem Aussehen ihres Lehrerzimmers befragt.

„Hier sind nicht einmal genug Stühle für alle vorhanden.“ Dietmar Weirauch, der auf einer halben Planstelle Englisch und Französisch gibt, ist über die Enge im Lehrerzimmer und über die fehlenden Kleiderhaken nur einen Moment empört. Dann stellt der 63jährige die Ohren auf Durchzug und studiert gegen die Unterhaltung seiner Kollegen noch einmal die französische Textpassage, die er gleich auf eigene Kosten für seine Schüler kopieren wird.

Seine Kollegin rückt derweil auf dem Nebentisch ihr „Büro“ zurecht. Zwei Pappkartons, ursprünglich die Deckel einer Kiste voller Kopierpapier, richtet sie an jener Tischkante aus, die sie mit so vielen Kollegen teilen muss. „Wenn alle da sind“, zischt sie, „muss ich meine Sachen da in die Ecke legen.“ Die Frau ist die einzige Lehrerin, die unumwunden sagt, wie sie über die Zustände nicht nur ihrer eigenen Schule denkt: „Das reiche Deutschland hat Schrottschulen.“

„Das reiche Deutschland hat doch Schrottschulen“

Schon kommt Rektor Schmerling herbeigeeilt. Der Satz mit dem Schrott hat ihm weh getan. Aber er wird nicht offiziell. Er beginnt lieber ein interessantes Gespräch über die Qualität der englischen Schulen mit der aufgebrachten Lehrerin. Die durfte jüngst 11 Tage in der englischen Partnerschule, der Langley Park School for Girls, weilen. Das hat ihr die Augen geöffnet. Tolle Cafeteria, schöne Räume, allesamt computerisiert und mit Zugang zum Internet. Aber hier? „Der Senat zerstört die Motivation der Lehrer“, kommentiert sie die Bildungspolitik der Berliner Landesregierung.

„Man kann nicht sagen, dass wir eine marode Schule sind.“ Schmerling darf und kann nicht von Krise sprechen. „Ich bin stellvertretender Rektor auf Probe“, sagt er. Und sieht wahrscheinlich, wie die schwergewichtige Schulrätin ihm die erste volle unbefristete Stelle wieder entzieht, die er in seinem 40. Lebensjahr errungen hatte. Auch der harsche Auftritt gegenüber seinen Kollegen ist nicht einfach. Schmerling zählt mit 40 Jahren zu den jüngsten in der Lehrerschaft von Endvierzigern und Mitfünfzigern. Statt von Krise zu sprechen, führt Schmerling lieber in den dritten Stock – um die Leistungsfähigkeit seiner Schule zu demonstrieren.

Der junge Rektor sperrt hier eine Tür auf und dort und überall stehen neue Computer. „Wir vernetzen die gesamte dritte und vierte Etage“, der schüchterne, vorsichtige Mann gerät fast außer Atem. „Man kann“, sagt er, „etwas erreichen. Auch in den Schulen.“ Vor einem Jahr war die ehrwürdige Sophie-Charlotte noch nicht am Netz. Nun gibt es drei PC-Labore für die 800 Schüler. Und sogar ein Internetcafé scheint in Reichweite. „Die Schüler werden es selber betreiben. Die schrauben hier diese alten Computer zusammen“, verweist er auf die ausgemusterten Modelle mit überholten 386er und 486er-Prozessoren. Schmerling glaubt an die Kraft der Erneuerung von innen, weil er selbst zu den beiden Lehrern zählt, die den Chatraum aufbauen.

Drunten im Souterrain sitzt derweil Ottmar Jüdes. „Es ließe sich vieles besser organisieren“, sagt er ohne Ärger oder Emotion. Jüdes ist seit 27 Jahren Lehrer. Vieles geht ihm, dem pädagogischen Koordinator der Sophie-Charlotte, zu langsam. „Eine Schulleitung zu besetzen“, beschreibt er die Wirklichkeit der Personalwirtschaft, „kann drei Jahre dauern.“ Er registriert in ruhigem Ton, dass die Arbeitssituation in den Schulen allgemein schwieriger geworden sei. Er bemerkt, dass „zu wenige junge Kollegen reinkommen.“ Er konstatiert für seinen Beruf, „dass mit den Jahren eine gewisse Gleichförmigkeit eintritt. Viele gehen ins Sabbatjahr, um es noch einmal rauszureißen.“

Was würde ihre Schule besser machen, Herr Jüdes?

Der 53jährige denkt eine Weile nach. Dann sagt er: „Mehr Engagement. Wenn man es wirklich will, kann man auch ohne Mittel mehr machen.“

Draußen im Treppenhaus der Sophie-Charlotte-Oberschule haben Siebtklässler ihre Antworten aufgeschrieben und an die Wand gepinnt. Wie muss eine Lehrerin/ein Lehrer sein? „Jung“ steht da. Wie sieht Euer Wunschklassenzimmer aus? „Ein Computerraum“, heißt es da, „für je zwei Schüler.“

Die Kids träumen eben davon, dass ihre Schule richtig gut ausgestattet ist. So gut wie der Ku’damm gleich nebenan.