Gefährliches Charisma

DAS SCHLAGLOCH
von KLAUS KREIMEIER

Nun hat nach zehn Jahren die PDS die Chance, von der eher rechten Parteikonstruktion der Personenpartei zu der eher linken Parteikonstruktion der Programmpartei zu konvertieren.“ (taz-Leser Jungnickel in einem Leserbrief vom 15./16. 4. 2000)

Programmparteien haben es in der Geschichte der Linken nie sehr weit gebracht. Die USPD hatte ein Programm – aber eine historische Rolle konnten sie und die frühe KPD, in jenem äußerst knapp bemessenen Zeitraum zwischen dem Kriegsende von 1918 und dem Untergang von Spartakus, nur spielen, weil sie mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zwei charismatische Figuren hatte. KARL und ROSA! Alles spricht heute noch von ihnen – aber wer spricht noch von ihrem Programm?

Man könnte auch sagen: Als Karl und Rosa tot waren, begann in der Geschichte der revolutionären deutschen Linken „vollinhaltlich“ und schweißtreibend die Geschichte der revolutionären Programmarbeit. Ihre institutionelle Gestalt fand sie – horribile dictu – in der „Thälmann-KPD“ – und ihre ebenbürtige Lichtgestalt in Teddy Thälmann selbst, den die Partei besser hätte verstecken sollen, anstatt ihn noch 1932 als Präsidentschaftskandidaten gegen Hindenburg und Hitler aufzustellen. Der Thälmann-Film von 1955, Kurt Maetzigs Ergebenheitsadresse an die SED, musste zwangsläufig zu einer schon damals von aufrechten Linken schmerzhaft empfundenen Realsatire geraten.

Überhaupt sollte sich jede Partei heute genau überlegen, ob es in der Epoche des Computers, in der Programme aus Pixeln generiert werden und die neueste Software das Rennen macht, noch opportun ist, unbedingt als „Programmpartei“ mitmischen zu wollen. CDU und SPD haben das längst begriffen und untereinander ausgehandelt, dass ihre programmatischen Restbestände nach Möglichkeit konvertierbar, zumindest aber kompatibel seien.

„Personenkult!“ rufen die Programm-Fanatiker der PDS entsetzt, wenn sie ihren ungeliebten, aber um so dringender benötigten Gysi als rhetorischen Florettfechter in nahezu sämtlichen Talkshows sehen. Was sie nicht wahrhaben wollen, ist, dass die Kommunisten ihren eigenen Personenkult gerade zu jener Zeit ins Aberwitzige trieben, als die bolschewistische Programmpartei Hochkonjunktur hatte und im Kreml, in Pankow und andernorts Furcht erregende Halbgötter residierten. Womöglich hat sich Gregor Gysi aus dem PDS-Schlamassel auch deshalb zurückgezogen, weil es ihm dämmerte, ihn könnte dasselbe Schicksal ereilen, das die wenigen begabten Medienfiguren der politischen Linken aus der Geschichte katapultiert hat: sei es durch Parteiintrigen, sei es durch einen rechtsradikalen Mordanschlag. Charisma war stets gefährlich – politisch jedoch ungemein produktiv.

Von Lassalle über Bebel und Liebknecht bis Kurt Schumacher und Willy Brandt hat sich ein Gesetz herauskristallisiert, das die Programmverfechter als ausgedörrte, kontraproduktive Bürokraten erscheinen lässt: Linke Politik wurde stets nur dann geschichtsfähig (und vor allem zur Bedrohung für den Klassenfeind), wenn sie aus dem Programm heraustrat und sich in einzelnen Personen und ihrer Aura, in medienkompetenten Einzelkämpfern konkretisierte. Individualismus war freilich in der organisierten Linken nie gefragt – eher wurde er im Linienkampf als rechtsopportunistisch verfemt und mit Sanktionen bis hin zum Parteiausschluss bedroht.

Gysi hat sich von der „Parteibasis“ so weit entfernt, dass über kurz oder lang der Bannspruch gefällt werden müsste – wäre er als Medienvirtuose für weite Teile der Öffentlichkeit nicht identisch mit der Partei und der einzige Garant für ihre öffentliche Wahrnehmbarkeit. Zehn Jahre lang war er als schillernde Ikone begehrt – nicht sein Programm, sondern seine Eloquenz, sein Witz, die funkelnden Augen hinter der blitzenden Brille und seine Lust zur Polemik machten ihn berühmt und färbten noch auf die Truppe ab, mit der sich im Übrigen kaum jemand gemein machen wollte. Außer ihm hat, erstaunlicherweise, nur Frau Wagenknecht begriffen, dass ein Programm nicht ausreicht, um die Revolution zu machen. Das Problem ist nur, dass sie sich das Fehlende in der Haute Couture besorgt – die wiederum allein nicht ausreicht, das Charisma zu ersetzen. Ein tolles Kleid und schmucke Hochzeitsfotos sind schon ganz gut – aber etwas mehr Feuer in der Rhetorik wäre schon wünschenswert.

Fürwahr – die PDS ist arm dran. Dieser Verein ist – tragisch genug – aus der Epoche eines menschenfresserischen Sozialismus mit Nussknacker-Figuren mitten hinein in die Mediendemokratie mit ihren Heerscharen von aalglatten, alerten, perfekt geschminkten und auf Sekunden-Statements gedrillten Zampanos gerutscht. In eine glitzernde Hölle, in der schon die Redlichkeit kaum Chancen hat – wie sollte da die „korrekte Linie“, zentralistisch-bürokratisch fugendicht abgesichert, auf einen Sendeplatz zur Prime Time hoffen?

Gysi hat eine Zeitlang nicht der Linie, aber dem, was menschlich und intelligent an ihr war, zum Auftritt verhelfen können. Nun, da er abtritt, wird sich vermutlich zeigen, dass die PDS den Kulturbruch, in den sie hineingeschleudert wurde, nur als Sekte auf ostelbischen Dörfern und in einigen Hamburger Studentenbuden überleben wird. Schon Marzahn dürfte bald verloren sein. Als „Medienintellektueller“ gerät schnell in Verruf, wer etwas zu sagen hat und sich gekonnt der Medien, zumal der elektronischen, bedient.

Das Problem wurzelt tief in der Geschichte der sozialistischen Parteien. Schon die Kultur- und Medienpolitik der frühen Sozialdemokratie war ein Desaster (das heute die Medienfigur Schröder und der Medienpolitiker Clement durch Überanpassung zu korrigieren suchen). Selbst dann, wenn die Kommunisten Film und Fernsehen in ihrer Gewalt hatten, wuchs das kulturelle Niveau ihrer Mitteilungen kaum über den Charme der Flugblatt-Agitprop hinaus. Medienintellektuelle wie Majakowski ließen sie verkommen. Willi Münzenberg, der einzige Medienstratege von Format, über den die KPD jemals verfügte, wurde 1937 aus der Partei ausgeschlossen und (wahrscheinlich) von einem Agenten Stalins umgebracht. Der Leidensweg der politischen Linken – zumal in Deutschland – ist mit ausgeschalteten Talenten gepflastert – wer nicht gleich abtransportiert oder dem Feind ans Messer geliefert wurde, den hat die Parteidisziplin erledigt. Nur sehen in einer halbwegs stabilen Demokratie wie der unseren auch linke Märtyrerschicksale glücklicherweise anders aus als zu jener Zeit, in der Stalins Spione durch die Korridore des Moskauer Hotels Lux schlichen und trotzkistische Abweichler in die Arme der Gestapo getrieben wurden. Gysi wird sich in sein Anwaltsbüro zurückziehen. Er wird, als sozialistischer Odysseus, den sozialdemokratischen Sirenenklängen vermutlich nicht erliegen. Gelegentlich wird er als linker Quertreiber unserer parteiübergreifenden Toskana-Fraktion von sich reden machen. Mit einem Wort: Er wird verschwinden – so wie andere politische Köpfe der letzten 150 Jahre in Verlagen, Zeitungsredaktionen, esoterischen Clubs oder gar im Nirwana verschwunden sind. Ein Ruhmesblatt in der Geschichte der politischen Linken ist dieser Karriereknick jedenfalls nicht.

Hinweise:Charisma war stets gefährlich – politisch jedoch ungemein produktiv Der Leidensweg der Linken ist mit ausgeschalteten Talenten gepflastert