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Lou Reed schreibt mit seinem neuen Album Ecstasy den Bildungsroman seines Lebens fort  ■ Von Christoph Gurk

Die Zeiten, als ein Popmusiker, der auch noch unter der Sparte „Songwriter“ geführt wird, ganze Segmente der Kulturkritik polarisieren und in miteinander verfeindete Lager einteilen konnte, sind schon länger vorbei. Ganz hart fällt aber der Befund aus, wenn man sich das Presse-Echo vor Augen führt, auf das dieser Tage eine neue Veröffentlichung von Lou Reed hoffen kann.

Wie schon beim letzten, vorletzten und, wenn man's recht bedenkt, auch vorvorletzten Mal hat sich ein Diskurskontinuum, das von den Stadtzeitschriften über Audio und Rolling Stone bis hin zum gehobeneren Feuilleton reicht, auf eine Routine geeinigt. Die betont mal salbungsvoll, mal ein bisschen frech, für die Landbevölkerung zum Mitschreiben seine Verdienste als Gründer von Velvet Underground und den Umstand, dass dieser Mensch die eine oder andere Grenzerfahrung hinter sich gebracht hat. Mit einem Hinweis wird auf seinen Hit „Take A Walk On The Wild Side“ hingewiesen, um sich dann einem Spätwerk zu widmen, das den Protagonisten als gereiften, nach allen Regeln der Kunst über die Formsprache des Songs gebietenden Souverän präsentiert.

Dazu, dass Lou Reed mehr denn je unter dieser kanonisierenden Rezeption lebendig begraben scheint, hat er allerdings maßgeblich selbst beigetragen. Seine Interviews, in denen er jede Frage nach der Legitimität seiner Kunst mit langen Monologen über den sagenhaften Sound der jeweils neuesten Veröffentlichung abschmettert, sind legendär und haben auch diesmal, als er vor ein paar Wochen das aktuelle Album Ecstasy promotete, zu dem eher gruseligen Vergleich geführt: Der Rock'n'Roll sei wie eine Frau mit schlechtem Ruf, und er fühle sich berufen, sie zu zähmen.

Die effizienteste Selbstimmunisierungsstrategie bleibt jedoch selbstverständlich sein stetig anwachsendes Gesamtwerk, aus dem er seit dem Album The Blue Mask (1982) jede Spur von subkulturell codierter Kontingenz zu tilgen bemüht ist. Es nimmt immer mehr die Gestalt des Bildungsromans an, in dem der Protagonist nach dem Muster bürgerlicher Entwicklungslogik jede Verfehlung, jede Station seines Lebens als Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer höheren, reicheren, verfeinerteren Form von Subjektivität umdeuten kann.

Dieser Prozess der Selbsterhöhung hat in den vergangenen zehn Jahren äußerst wechselhafte Resultate hervorgebracht. Zu den Höhepunkten zählt heute noch der Songzyklus New York aus dem Jahr 1989, mit dem Reed die Mythologie seiner Heimatstadt unter den Bedingungen einer sich verschärfenden sozialen Lage überprüfte. Weniger erbaulich gestaltete sich das letzte Album Set The Twillight Reeling (1996), auf dem er seine noch frische Liebensbeziehung zu der Künstlerin Laurie Anderson auf reichlich verstiegene Weise als finalen Akt der Rettung, der Erlösung und der Reinwaschung von vergangenen Sünden inszenierte.

Dass auch diese Fiktion irgendwann Risse bekommen würde, konnte nur eine Frage der Zeit sein. So schreibt Ecstasy das nächste Kapitel und protokolliert minutiös das Zerbrechen einer Beziehung. Getrieben von einer existentiellen Krise, sucht der Erzähler einige entscheidende Stationen seiner Biographie auf, kulminierend in dem 18-minütigen Epos „Like A Possum“. Lou Reed versteht den Song als eine Art zeitgemäßer Fortsetzung des legendären Velvet-Underground-Tracks „Sister Ray“. Tatsächlich werden schemenhaft noch einmal die Schauplätze, das Personal, die Handlungsabläufe vergangener Entgrenzungen heraufbeschworen. Sie verdichten sich zu einem Abgesang auf die Bohème, in dem es Lou Reed (ebenso in Songs wie „Baton Rouge“ oder „Turning Time Around“) für kurze Momente gelingt, die Imago des gegen jede Form von Zufall abgepanzerten Kontrollfreaks zu überwinden, nur um Minuten später in Larmoyanz und misogyne Exzesse zurückzufallen.

Wenn Lou Reed dieses Wechselbad bei seinem Hamburger Konzert wieder einmal stellvertretend für eine verunsicherte Nachkriegsmännergeneration durchlebt, der er einst seine wärmende Lederjacke lieh und mit der er seit geraumer Zeit das berühmte „Altern In Würde“ übt, dann wird er zwar nicht auf der Bühne des Thalia-Theaters stehen, wo Anfang des Jahres POEtry, seine jüngste Kollaboration mit Robert Wilson, Premiere feierte.

Aber dass es sich um eine Inszenierung handelt, die mit dem Au-thentizitätsgebaren eines traditionellen Rock-Konzerts möglichst wenig zu tun haben will, wird er dem Vernehmen nach durch eine Lichtkonzeption unterstreichen, die dem Inventar der Theaterdramaturgie entlehnt ist. Das bietet allerdings wenig Grund zur Häme: Lou Reed ist nicht der einzige Veteran einer ehemaligen Gegenkultur, der auf diesen Brettern nach einer neuen Berufung sucht.

Mittwoch, Gr. Freiheit, 21 Uhr