Und Jonas wird zum Fernsehen

von GEORG SEESSLEN

Willkommen in dieser Welt, Jonas, mehr oder weniger sanft geboren, in die Wirklichkeit von Lego und Ikea, Teletubbies und Terminator. Willkommen in der Welt der Zeichen und der Bilderflüsse, der Parallelwelten und der Videokameras. Darüber wenigstens besteht Einigkeit bei den Alten, die dir, immer noch, das Leben schwer machen werden und doch das einzige sind, woran du dich halten kannst: Der Mensch der Generation 21 wird in eine Medienwelt hineingeboren, ungefähr so, wie der Mensch des Mittelalters wohl in eine Welt der christlichen Phantasie hineingeboren wurde, der Mensch des bürgerlichen Zeitalters in eine Welt der Arbeit, der Ausbeutung, der Kriege und der Ordnungen. Und schwer wie im Mittelalter, schwer wie in der besinnungslosen Herrschaft von Fleiß und Industrie, ist es, das Licht der Aufklärung in die finsteren Bilder und Phantasien zu bringen, die das eine wie das andere unablässig produziert hat.

Nicht in eine Welt, die von Medien beherrscht wird, wie in einem gewöhnlichen Science-Fiction-Roman, ist Jonas geboren, sondern in eine Welt, die von ständigen Medienrevolten und Medienkatastrophen bestimmt ist. Die Menschen schreien vor Verzweiflung und Lust unter ihren Medien, unter den Wiederholungszwängen und Offenbarungsflashs der Lautsprecher, Bildschirme, Sensoren und Drogen. Deswegen ist es wahrscheinlich ein mehr oder weniger frommer Selbstbetrug zu träumen, der Mensch dieser Generation sei dergestalt medial sozialisiert, dass er seine Medienumwelt cool, souverän und ironisch bewerkstelligen könnte. Noch rascher als seine Eltern wird er Strategien der Apathie entwickeln, Kulturpessimismus, Ignoranz, Sarkasmus. Jonas wird Rundumkinos erleben, in denen sich sein Sitzplatz synchron zum Bildgeschehen bewegen wird, er wird sich selber durch das Geschehen steuern, eine eigene virtuelle Kamera führen können. Jonas wird nicht nur ein totaler Konsument der Medien sein, sondern auch ein totaler Produzent. Irgendjemand wird jeden Schritt von ihm aufzeichnen, jede Datenspur zurückverfolgen, beständig „Profile“ von ihm erstellen. Auch der Staat wird ihn medial erfasst haben, er vollendet die elektronische Überwachung, aber er kann und will niemanden dafür bezahlen, die gesammelten Daten und Bilder auch zu verwerten, geschweige denn, dafür auch noch Verantwortung zu übernehmen.

Jonas wird früh gelernt haben, sein Leben mit den medialen Revolten zu synchronisieren. Entwicklung, Hysterisierung, Trivialisierung und Entwertung eines Mediums werden bei ihm die „Lebensabschnitte“ bestimmen. Jonas wird bemerken, dass er sich in einem Bürgerkrieg um das Bild befindet und dass Medien organisierte Jäger von Bildern und Bedeutungen sind, deren Gier kein Staat und kein gesellschaftliches Projekt, nicht einmal eine Idee, ja nicht einmal mehr Sprache als letztes Werkzeug der vor-kannibalistischen Verständigung Einhalt gebietet. Jonas wird in diesem Medien-Bürgerkrieg, in dem längst wieder wirkliches Blut fließen muss, Stellung beziehen. Aber wahrscheinlich bleibt auch ihm nichts anderes, als Täter und Opfer zugleich zu werden. Gegenstand des Kampfes ist das Recht am Bild als Ressource. Sein Bewusstsein wird sich am Medium schärfen; er denkt bei jedem Bild sofort seine Dekonstruktion mit, um sich zu wehren. Er wird nicht mehr „Ich und das Medium“ denken, sondern er wird „das Medium und das Medium“ denken.

In Jonas’ Welt sind die Medien jene Herrschaftsinstrumente, in denen alle politischen Entscheidungen zugleich manipuliert und simuliert werden können. Die Medien sind die Motoren einer kapitalistischen und seelischen Privatisierung der Politik. Jonas wird Teil einer virtuellen Wohngemeinschaft sein, von deren Mitgliedern die anderen nicht wissen, ob sie reale Personen, erfundene Biografien, sich selbst generierende Programme, lebende Maschinen oder nur Verstärkungen der eigen Wunsch- und Angst-Profile sind. Er weiß nicht, wohin die Kamera sein Bild sendet, und er weiß nicht, woher das Bild kommt, das ihn erreicht. Irgendwoher muss Jonas das Geld bekommen, um zu verhindern, dass die medialen Ströme, die sein Leben aufrechterhalten, unterbrochen werden. Woher kommt dieses Geld? Durch Arbeit kann es Jonas nicht mehr erhalten. Er muss spielen, sich selber einsetzen, medialisieren. Sein Leben interessiert das Medium nur, insofern er es riskiert.

Denn Jonas wird in einer Welt aufwachsen, in der der ursprüngliche Pakt zwischen den Medien und der politischen Ökonomie ethisch aufgehoben ist. In diesem Pakt war festgelegt, dass jede mediale Veränderung Abbildung einer Veränderung im Arbeitsprozess ist und der soziale und phantastische Gebrauch des Mediums daher nützlich für die Gestaltung der sozialen Biografie: Vorbereitung auf die Arbeit oder Rekreation zu neuer Arbeit. Medien waren das Wahrnehmungsspiel, das die Umwandlung der Produktion begleitete, und darin waren die Machtkämpfe abgebildet.

Die Entwicklung der Medien war ein Jahrhundert gelenkt von der labilen Herrschaft des moralischen Kleinbürgertums und seinem Interesse, an der Welt teilzuhaben. Und zwar in zwei Formen: In der des (möglichst ungefährlichen) Dabeiseins (man hat dies euphemistisch „Information“ genannt) und in der Form der Symbolisierung von Herrschaft und Ordnung (Spiel und Erzählung unter dem Begriff der „Unterhaltung“ zusammengefasst). Und seit hundert Jahren ist diesem moralischen Kleinbürger und seinen Medien diese widersprüchliche Einheit Lust und Katastrophe zugleich. Wo immer Information ist, da ist auch Unterhaltung, und umgekehrt, wo Unterhaltung ist, da ist auch Information, zumindest in der Form von Ideologie. Auch in seiner neue Medienwelt wird Jonas diesen verzweifelten und auch wieder höchst komischen Widerspruch mitschleppen. Er wird zugleich nach dem Wissen und nach dem Vergessen suchen, und von seinen Medien genauso dabei im Stich gelassen werden wie seine Eltern.

Jonas, dessen Medien den ganzen Körper umfassen, Lebenszeit, Spielzeit und Traumzeit ineinander stürzen lassen, lernt schon früh, die Welt als Zeichenarrangement zu sehen, polymorph und gleichgeschaltet, multimedial und ikonographisch reduziert, und sich auf die Suche nach dem Wirklichkeitsrest zu machen wie ein Jäger und Sammler, und Kammern einer verlorenen Kindheit zu finden. Das Medium ist ihm Freund und Feind zugleich. Jonas spürt ein Erkenntnisinteresse in sich, aber er weiß nicht, worauf er es richten sollte. Deshalb wird Jonas eine neue Form der Transzendenz, eine neue Form der Religion entdecken, ein Jenseits seiner Medienwirklichkeit, das man „die Wirklichkeit“ nennt. Kein Mensch war je dort, aber dem einen oder anderen konnte es in die Kindheit scheinen, in einer zärtlichen Berührung, in einem wilden Atemstoß sich offenbaren. Jonas wird von der Wirklichkeit träumen.

Aber auch da müssen wir ihn wohl enttäuschen. Die Traumwelt, die von den Medien geschaffen wird, ist gar kein anderes. Jonas begreift vielleicht, dass er doppelt betrogen wurde: von den Medien selbst aber auch von den pessimistischen Mahnungen seiner Eltern. Daher wird auch Jonas nicht darumherumkommen, eine Person zu werden, und zwar eine politische Person. „Jede Klasse“, formulierte man bei TEL QUEL, „errichtet ein System zur Besitzergreifung der Sprache“. Unser Freund Jonas wird nicht mit einer abstrakten und linearen „Medialisierung“ zu tun haben, sondern mit einer Form des medialisierten Klassenkampfes um das Wesen dieser Medialisierung. Die zwei Fraktionen des Turbokapitalismus, die Globalisierer und die Rechtspopulisten, werden sich einerseits Segmente der Medien streitig machen. Die Absicht der einen ist es, die Medien so zu gestalten, dass sie das Instrument der Globalisierung, Privatisierung, Monopolisierung und Ökonomisierung der Welt sein können. Sie wollen daher intelligente Mörder erzeugen. Die anderen aber wissen, dass eine Bevölkerung, die zur Mehrzahl aus vollkommen überflüssigen Wesen besteht, irgendwie beschäftigt werden muss. Das Medium muss dumm, stumpf und aggressiv machen, damit der sich globalisierenden Elite – es wäre schon ein großes Glück, wenn unser Freund zu ihr gehörte – eine Masse von Menschen gegenübersteht, deren Bewusstsein sich provinzialisiert, infantilisiert, barbarisiert.

Eine abstrakte, eindeutige „Herrschaft“ über die Medien wird es dabei ebenso wenig geben, wie wir uns als Partisanen der Subversion durch sie bewegen könnten. Auch Partisanen können nicht fliegen, und ein überflüssiger Mensch ist mit einem Gewehr in der Hand ein stärkeres Bild, aber immer noch überflüssig. Die Welt ist alles, was das Fernsehen ist: eine apokalyptische Vorstellung. Die Welt ist alles, was nicht Fernsehen ist. Eine noch apokalyptischere Vorstellung.

Spätestens nachdem das Projekt der Moderne in der Ästhetik gescheitert oder abgeschlagen war (vermutlich im Interesse jenes moralischen Kleinbürgertums), lässt sich nicht einmal der Prozess der Bilderproduktion anders reflektieren als in den Endlosschleifen der Selbstreflexion: Information über Unterhaltung, und Unterhaltung über Information. Kann also die Ökonomie in den neuen Medien in Jonas’ Welt nur mehr und perfekter über sich selbst sprechen? Zugleich in Form von Lügen und ganz und gar wahr, wie wir es schon gewohnt sind. Und Jonas, einmal in Zweifel geraten, versteht, dass er nicht von seinen Medien sprechen kann, ohne von dieser Ökonomie zu reden. Und das wird Jonas, hoffen wir’s, sehr heftig tun.

Hinweise:Die Welt ist alles, was das Fernsehen ist Die Welt ist alles, was nicht Fernsehen ist