Die Zukunft ist ein Kinderzimmer

von BERNHARD PÖTTER

Am 15. September 2019 um 5.01 Uhr ist das Darlehen fällig. Nach Ablauf von 21 Jahren, also einer Generation, werde ich die Erde an meinen Sohn zurückgeben: Schließlich habe ich sie mir an seinem Geburtstag nur von ihm geliehen. Nach dem Abzug von Zins und Kindeszins bleibt die Frage: In welchem Zustand wird sich dann das Objekt befinden?

Antwort: Es kommt drauf an, wen man fragt. Die Perry-Rhodan-Fans erwarten, dass wir uns morgens die Rakete auf den Rücken schnallen und uns zum Algendinner mit den Gesandten von Alpha Centauri auf dem sechsten Jupitermond treffen. Die Cyberfreaks träumen davon, ihren Körper und Geist per Knopfdruck um den Globus zu jagen. Die Apokalyptiker zittern bei der Vorstellung, im Jahr 2019 nach dem atomaren Winter auf die Jagd nach Ratten gehen zu müssen.

Das ist natürlich alles Quatsch. Die Welt wird in 21 Jahren nicht aussehen wie eine Filmkulisse aus „Blade Runner“ oder „Raumschiff Enterprise“. Wenn ich aus meinem sicheren Versteck hinter dem Schaukelpferd mit der angebissenen Nase die Generation der Zukunft betrachte, weiß ich: Die Welt von morgen wird sein wie unser Kinderzimmer. Vollgestellt mit altem Gerümpel und Hightech-Spielzeug, jeden Tag anders, altbekannt und immer neu.

Mit viel gutem Willen werden wir das ein „kreatives Chaos“ nennen. Aber im Grunde unseres Herzens würden wir gern mal wieder richtig aufräumen. Denn, mal ehrlich: Kinder an die Macht? Das wäre nicht nur erfrischende Naivität und bedingungsloses Vertrauen in uns Eltern. Das hieße auch die nächtliche Ruhestörung als Normalfall, eine absurde Versorgungsmentalität, täglich Raub und Plünderung und Kollektivierung. Angesichts des Faustrechts, das auf Spielplätzen herrscht, würde man noch lieber von der Bimbes-CDU regiert.

Das wird ohnehin passieren. Nach zwei Wahlperioden Rot-Grün heiratet Schröder die CDU-Chefin Merkel und feiert mit ihr große Koalition. Daraus geht die CDU erneuert hervor und gewinnt 2014 die Bundestagswahl.

Der spannendste Gegenstand in der ganzen Wohnung ist für meinen Sohn die Steckdose. Hingebungsvoll kniet er vor der Wand und fummelt mit dem Netzstecker an der Kindersicherung herum. Der Stromwirtschaft nähert er sich am liebsten mit einem Stück Draht in der Faust.

2019 sind die meisten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, der Strom aus der Steckdose kommt aus Gaskraftwerken und zu einem Viertel aus Wind, Sonne und Biomasse. Doch der Streit über das atomare Erbe unserer Väter und Mütter hat gerade begonnen. Kasimir Majewski, Enkel des jetzigen Chefs des Atomstromers Bayernwerk AG, beantragt verstärkte Castortransporte in ein Endlager bei Tschernobyl, einer Stadt in der Ukraine. Jürgen Trittin humpelt am Arm eines Altenpflegers zur Schienenblockade.

Wir Kindergarten-Eltern sind skeptisch. Wenn unser Westbezirk Kreuzberg mit dem Ostbezirk Friedrichshain zusammengelegt wird, fürchten wir den Kulturkampf in der Kita. Erziehungsideen Ost und West sind sich offensichtlich immer noch sehr fremd. Die Ossis fürchten multikulturelles Tohuwabohu, die Wessis morgendlichen Fahnenappell.

„Wie war das damals, als deine Eltern dich nicht auf das Visum geschrieben haben und du dich am Ende der Transitstrecke auf dem Rücksitz verstecken musstest, um von den Vopos nicht als Flüchtling entdeckt zu werden?“ Für meinen Nachwuchs sind die Geschichten von Mauer und DDR reine Märchen. 2019 sind ja selbst in Berlin alle Baulücken geschlossen – und das Museum am Checkpoint Charlie auch. Zuletzt kamen nicht mal mehr Amerikaner. Die PDS stellt noch drei Gemeinderäte in Finsterwalde.

„In diese Welt kann man doch keine Kinder setzen.“ Das hat ein Bekannter tatsächlich gesagt. Wer so denkt, sollte es vielleicht wirklich besser lassen. Ansonsten gilt: Noch nie waren wir so gesund, so reich und so gut versorgt wie heute. Die Überlegung, wie unsere Kinder in 20 Jahren leben, ist Luxus. Früher und anderswo lautet die Frage: Werden unsere Kinder in 20 Jahren noch leben und uns ernähren?

„Rente?“, fragt mein Sohn, „Du kriegst wirklich Rente? Ist doch total von vorgestern.“ Schon seit 2018 investiert er sein Erspartes in festverzinsten Anleihen und spekuliert sich mit der ard/zdf.com-Aktie seine Altersversorgung zusammen. Nach den Internetaktien sind vor allem die Energieversorger die Renner, die mit Brennstoffzellen für saubere Wärme und Bewegung sorgen. Bei der Familienplanung gelten in der EU (also allen europäischen Staaten außer Österreich) strenge Regeln: Geklont werden darf erst das dritte Kind einer Familie.

Jeden Morgen radle ich mit meinem Sohn zur Kita. Ich ärgere mich darüber, dass er die ersten Jahre seines Lebens auf gleicher Höhe mit den Auspuffrohren verbringt. Trotzdem muss ich mich als Teil der „Generation Golf“ beschimpfen lassen.

Das Problem Verkehr ist 2019 natürlich ungelöst. Zwar wimmelt es von 3-Liter-Autos und 6-Liter-LKW, aber die Straßen sind nach wie vor verstopft. Die Deutsche Bahn AG hat eine erfolgreiche Sanierung hinter sich: 2017 wurde die letzte Bahnstrecke geschlossen und die Catering-Tochter Mitropa an die Börse gebracht. Seit die Bahn keine Züge mehr fahren lässt, schreibt sie endlich schwarze Zahlen. Die Verkehrsdebatte wird von zwei gegensätzlichen Modellen bestimmt: Lissabon hat die Innenstadt für PKW gesperrt, dort gibt es nur öffentlichen Verkehr. In Wolfsburg läuft dagegen seit 2016 ein bundesweiter Modellversuch: Für Menschen, die nicht in Begleitung von Autos, Motorrädern oder LKW sind, ist das Betreten der Innenstadt untersagt.

Mein Kind ist sanftmütig. Aber Augentropfen, Jacke ausziehen oder Spielunterbrechung lassen ihn zu einem zuckenden, schreienden Bündel werden. Ich habe ein Argument: „Hey, ich bin dein Vater, ich will stets dein Bestes“. Es nutzt wenig.

2019 ist eine der spannendsten Erziehungsfragen entschieden: Wie und womit werden unsere Kinder gegen uns rebellieren? Natürlich fanden sie unsere empfindlichsten Punkte: Sie verweigern die säuberliche Mülltrennung. Und finden die deutsche Fußballnationalmannschaft klasse. So was hätte es früher nicht gegeben.

Zur Berufsberatung muss mein Sohn jedenfalls nicht. Falls er sich weigert, Olympiasieger oder Nobelpreisträger zu werden, hat er eine Karriere als Raumpfleger vor sich. Besen, Handfeger, Mopp und Staubsauger sind Spielzeuge, die aufs Leben vorbereiten.

„Und ihr habt wirklich acht Stunden am Tag und die ganze Woche gearbeitet?“ So fragt mein Sohn, als er mit 16 seinen ersten Ferienjob als Teilzeit-Controller einer Putzkolonne antritt. „Und warum waren so viele Leute ohne Arbeit?“. Das ist 2019 schwer zu beantworten. Inzwischen ist neben der sozialen Grundrente eine halbe Stelle die Regel, den Rest der Zeit verbringt das Volk mit Kinderbetreuung, Sport und Teleshopping. Die Grundrente wird teilweise finanziert über die Einsparungen der Krankenkassen, die das gesündere Leben mit sich bringt. Die Arbeitslosenquote liegt nur noch bei 6,4 Prozent. Das liegt natürlich auch daran, dass die Bevölkerung in Deutschland von 80 auf 65 Millionen abgenommen hat.

Mein Sohn gilt bei seinen Erzieherinnen als „lustbetont“. Weil er gern und viel isst und die klebrigen Kartoffeln am liebsten zwischen Kinn und Hinterkopf verteilt. Ich gelte bei meinem Sohn als Folterknecht, weil ich ihm die Paste aus den Haaren wasche.

„Ich verstehe immer noch nicht, wie ihr Tiere essen konntet, die mit schädlichen Medikamenten gespritzt, mit Sondermüll gefüttert und vor dem Töten elend gequält wurden“, sagt meine Schwiegertochter. „Wart Ihr wahnsinnig?“ Sie sieht nicht aus wie Brigitte Bardot, aber redet so. Fleisch gilt bei vielen Menschen wieder als Delikatesse, die einmal die Woche gegessen wird und von ausgesuchten Höfen stammt. In einem 50-Milliarden-Dollar-Werbefeldzug haben McDonald’s und Burger King gemeinsam ihre Kundschaft überzeugt, die gleich schmeckenden, gesünderen (und in der Herstellung viel billigeren) Burger aus Getreide, Algen und Eiweiß zu akzeptieren. Die Pommes sind aber weiter fettig. Und Cola frisst immer noch an Zähnen und Eingeweiden.

Die braunen Augen sehen mich verwundert an: „Was ist falsch daran, den Regenwurm mit der Schaufel totzuquetschen? Und warum mischt sich Papa ein, wenn ich Paulina mit dem Holzklötzchen eins über die Rübe haue?“

2019 erreichen die öffentlichen Moralversorger wie Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien mit ihren Botschaften kaum noch Publikum. Trotzdem herrscht nicht Sodom und Gomorrha. Nach der Überhitzung des Prinzips „Alles wollen, alles kaufen, alles zeigen“ haben sich ab 2010 Bürgergruppen, Basiskirchen und Vereine formiert, um über praktische Fragen der Moral und der Ethik zu diskutieren. Eine lebhafte Debatte über Sinn, Zweck und Normen des Zusammenlebens ist im Gange. An den Schulen gehört das Fach „Ethik und Religion“ zu den meistbesuchten Kursen. Zufällig höre ich, wie mein Sohn zu seiner Liebsten sagt: „Was meine Eltern meinen, wenn sie ihre ethische Viertelstunde bekommen, sind eigentlich nur drei Dinge: Es gibt einen Gott, Liebe ist stärker als Hass, und man darf die Moral nicht den Moralisten überlassen.“ Irgendwas haben wir also richtig gemacht.

Ich stelle mir vor, wie mein Sohn in zehn Jahren diesen Text liest. Er wird sich wundern, was sein Vater über ihn denkt. Natürlich wird er sein Leben sowieso ganz anders leben. Schließlich ist die Zukunft ein Kinderzimmer. Man kann täglich das gerade Erreichte abreißen, umbauen und neu errichten.

Hinweise:VERKEHR IM JAHR 2019:Die Straßen sind mit 3-Liter-Autos verstopft

FAMILIENPLANUNG 2019:Geklont werden darf erst das dritte Kind