Sparbuch von Aldi

Der Handel entdeckt Finanzdienstleistungen als neuen Expansionsbereich, die Banken suchen neue Vertriebswege. Kein Wunder, dass beide Branchen langsam zueinander finden

von GLYN ATWAL

Was unterscheidet jemanden in einem deutschen Supermarkt von jemandem in einem englischen Laden, außer dass der eine Sauerkraut und der andere Baked Beans in seinem Einkaufswagen liegen hat? Der Herr, der bei Tesco einkauft, hat auch sein Sparbuch dabei. Denn immer mehr britische Supermarktketten bieten ihren Kunden neben Salami und Sausages inzwischen jede Art von Finanzdienstleistungen, vom Darlehen über Versicherungen bis hin zur Altersvorsorge.

Und in den letzten Jahren haben es Tesco, Sainsbury’s und Safeway geschafft, immer mehr Kunden davon zu überzeugen, dass sie ihre Geldgeschäfte auch gleich beim Einkauf mit erledigen können. Auch in Deutschland zeigt das kontinuierlich rasante Wachstum von Direkt-Banken und -Brokern, dass Kunden zunehmend bereit sind, von traditionellen Bankfilialen zu unkonventionellen Anbietern zu wechseln. Der veränderte Lebensstil einer jungen, beruflich erfolgreichen und damit einkommensstarken Klientel fordert neue Lösungen. Hinzu kommt, dass viele Kunden die traditionellen Banken als eher arrogant und schwer ansprechbar empfinden.

Wie sich die Branche hier entwickeln könnte, zeigt der Blick über den Kanal. Englands führende Supermarktkette Tesco hat vor zwei Jahren ein Joint Venture mit der Royal Bank of Scotland geschlossen und bietet nun Versicherungen, Kredite und Sparkonten an. Die Transaktionen können über einen 24-Stunden-Telefon-Banking-Service sowie zum Teil über einen Serviceschalter im Supermarkt abgewickelt werden. Sogar ein Internet-Banking-Service ist seit kurzem verfügbar.

Der Zusammenschluss hat Vorteile für beide Partner. Die Royal Bank of Scotland kann die Marke Tesco als zusätzlichen Vertriebskanal nutzen. Tesco kann seine Kundenbeziehung intensivieren. Mit Erfolg. Tesco Personal Finance, so der Name der gemeinsamen Tochter, hat im November 1999 nicht nur über 1 Million neuer Kunden gewonnen, sondern schreibt bereits nach zwei Jahren schwarze Zahlen.

Auch andere Einzelhändler nutzen die strategischen Möglichkeiten. Tescos größter Rivale Sainsbury’s, gründete mit der Bank of Scotland die Sainsbury Bank. Die Bank, die einen 45-prozentigen Anteil an der Tochter hält, profitierte von der schnellen und effizienten Einführung auf dem englischen Markt. Auch die Handelskette Marks & Spencer ist beim Supermarkt-Banking-Boom dabei. Anstatt bei traditionellen Kreditinstituten nehmen die Kunden die Kredite nun gleich im Laden auf. Der jährliche Darlehensbetrag liegt bereits bei über 2,8 Milliarden Pfund.

„Rewe“, so Wolfgang Schmuck, Pressesprecher der Rewe AG, „beobachtet die Entwicklung mit großem Interesse.“ Rewe könne ebensogut ein Unternehmen der Finanzwelt werden wie Aldi heute einer der größten Computeranbieter Deutschlands geworden ist. Die Marke Aldi hat sich schon seit einiger Zeit zum anerkannten Anbieter für Value for Money entwickelt. „Wenn der Handel Kundennähe und Vertrauen gewinnt, gelten die Voraussetzungen als sehr positiv“, so Herr Wasmuth, Marketing Manager des britischen Unternehmens Marks & Spencer für Deutschland und Holland.

Wasmuth schließt eine Kunden-Charge-Card, also eine Kreditkarte, die ausschließlich bei Marks & Spencer gültig ist, innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht aus. Voraussetzung dafür sei allerdings die Realisierung der M & S-Expansionspläne in Deutschland.

Carla Laqua von den Entrium Direct Bankers, der ehemaligen Quelle-Bank, sieht ebenfalls große Marktchancen: „Immer mehr Kunden sind bereit, von traditionellen Bankfilialen abzuwandern und Finanzentscheidungen selber zu treffen.“

Ursache der Marktentwicklung ist das neue Verbraucherverhalten: Immer mehr Kunden wollen in der Lage sein, ihre Geschäfte, Einkäufe und Geldangelegenheiten flexibel zu erledigen. Dieses Bedürfnis ist mit der Liberalisierung der Ladenöffnung, aber auch durch das zunehmende One-Stop-Shopping in Deutschland erheblich gestiegen.

Ein starkes Vorbild für alle Non-Finance-Anbieter ist die VW-Tochter Volkswagen Bank. Der Markenkernwert von VW hat dafür gesorgt, dass mehr als jeder dritte VW-Neuwagen über die Financial Services finanziert oder geleast wurde. VW hat so als Finanzdienstleister einen herkömmlichen Finanzierungsweg ersetzt und ohne großen Werbeaufwand eine starke Marktposition im Direktbank-Segment etabliert. Die VW Bank bietet inzwischen in Kooperation mit der Adig-Investment für ihre Kunden Investment-Fonds an. Damit will sie nicht nur die Kunden stärker an die Marke binden, sondern auch die universelle Bankverbindung verstärken.

Aussicht auf Erfolg attestieren Experten auch der Deutschen Telekom, falls sie Ambitionen entwickeln würde, in den Finanzbereich zu expandieren. Eine „Filiale“ in jedem Haushalt mit Telefonanschluss bietet ein ausgezeichnete Basis, um einen Telefon-Banking-Service einzuführen.

Im Rahmen des gesteigerten Interesses an Finanzthemen und des zu erwartenden Erbschaftsgenerationenbooms müssen künftige Anbieter schnell reagieren, um sich einen First-Mover-Wettbewerbsvorteil zu schaffen. Vielleicht wird es dann auch bald in Deutschland möglich sein, im Supermarkt 100 Gramm britische Rindersalami zu kaufen und eine Theke weiter die entsprechende Lebensversicherung abzuschließen.