Täufer und Kannibalen

Jesuitische Patres, die Indianer zu Christen machen? Und mit ihnen ein quasi kommunistisches Wirtschaftssystem aufbauen? Eine abenteuerliche Geschichte! Und doch wahr. Die Missionsdörfer im Südamerika des 17. und 18. Jahrhunderts waren ein beispielloses soziales Experiment

von PHILIPP GESSLER

Ein Teufelskerl, der Dobrizhoffer! Das zeigt sich mal wieder an diesem 3. August 1765 im argentinischen Chaco. Es ist vier Uhr früh, und sechshundert wilde Indianer belagern sein Dorf San Rosario. Die sechzehn Verteidiger, gelähmt vor Angst, schützt nur noch eine Palisade. Jeder weiß: Wer den Kampf überlebt, landet in Feindes Magen.

Da fasst sich Dobrizhoffer ein Herz: „Ich lief der wilden Horde entgegen, legte drohend meine Muskete an, und unter meinen Füßen klirrten die Pfeile auf dem Boden, der mit ihnen wie bestreut war.“ Da „traf mich ein langer Pfeil aus härtestem Holz und mit fünf Haken ausgerüstet in die Schulter meines rechten Armes, verletzte den Muskel, mit dem ich den Mittelfinger bewegte, und blieb in meiner Seite stecken.“ Der Österreicher nimmt die Muskete in die Linke, lässt sich hastig den Pfeil aus dem Fleisch drehen, stürmt wieder ins Getümmel, schießt in die Luft, die Angreifer fliehen.

Aus diesem Holz waren Eroberer – und Missionare. Denn Martin Dobrizhoffer war Geistlicher, Pater der „Societas Jesu“, der Jesuiten. Etwa zwanzig Jahre wirkte er unter den Indianern am Uruguay und amParaná. Zwei Jahre lebte er mit den kriegerischen Abiponen in Chaco, ritt mit ihnen über Land, verteidigte sie – und wurde Teil eines „Heiligen Experiments“, das seit Jahrhunderten Fantasie und Verstand von Gelehrten, Geistlichen und Politikern anregt: des so genannten Jesuitenstaats in Paraguay. Hollywood hat diesem Thema einen eindrucksvollen Film mit Robert De Niro und Jeremy Irons gewidmet: „Mission“, 1986 ausgezeichnet mit der Goldenen Palme von Cannes. Er gibt ein schönes, vielleicht zu schönes Bild dieses geschichtlichen Phänomens. Was aber sind die Fakten?

Auf einem Gebiet, das das heutige Paraguay, Teile Boliviens, Argentiniens und Brasiliens umfasst, existierte von 1609 bis 1767/68 dieser „Jesuitenstaat“. Kein Staat im heutigen Sinne, denn de jure war er als Teil der Provinz Paraguay dem König in Madrid und dem Vizekönig in Lima direkt unterstellt. De facto aber war das Gebiet weitgehend autonom. Es glich einer Konföderation theokratischer Kolchosen oder Kibbuzim – einzigartig in der Geschichte und wirtschaftsgeschichtlich höchst interessant.

In diesem Reich mit, um 1750, über 150.000 Bewohnern gab es kein Geld und kaum Privateigentum. Die Indianer lebten in damals etwa sechzig Dörfern, „Reduktionen“ genannt (vom spanischen reducir: zusammen-, zurückführen). Eine Reduktion hatte meist einige Tausend Einwohner – alles Indianer, bis auf ein oder zwei Jesuiten. Erstes Ziel dieser Missionen, oft auf Anhöhen planmäßig errichtet, war die Christianisierung, dann die „Zivilisierung“ der heidnischen Indianer. Denn in der Regel waren sie Halbnomaden, in ihrer Zivilisation eher Steinzeitvölkern gleichend.

Es waren rauhe Völker: Pater Dobrizhoffer hat eine lange Liste der Jesuiten erstellt, die bei der Missionierung massakriert wurden: „Es ist fast keine paraguayische Nation, um die sich nicht die Jesuiten einmal verdient gemacht hätten“, bemerkt er, „aus meinem Verzeichnisse wird man aber auch den Schluss ziehen, dass fast keine Nation in Paraguay ist, die nicht einen oder mehrere Jesuiten getötet hat.“ Am erfolgreichsten war die Mission bei den Guarani. Die meisten von ihnen lebten am Parana und am Paraguay sowie an deren Nebenflüssen. Trotz ihres Namens, der „Krieger“ bedeutet, war es ein relativ friedliches Volk, das nur ab und an Menschen aß – und zwar nur die Tapfersten der Feinde, um ihres Mutes teilhaftig zu werden.

Es half aber wenig – diese Erfahrung machten die Jesuiten schnell –, die Indianer nur zu taufen und dann wieder weiterzuziehen: Bei dieser Wandermission war das Evangelium schnell vergessen. Allein bei permanenter Betreuung der Indianer in ihrer eigenen Sprache überlebte der neue Glaube in den Siedlungen. Und das war schließlich das Hauptanliegen der Ordensleute. Doch was hatten die Indianer davon, in Reduktionen und mit einem neuen Glauben zu leben?

Ein Motiv herrschte vor: der Schutz vor Versklavung und Zwangsarbeit. Zwar betonten die spanischen Kolonialgesetze sowie mehrere Päpste, die Indianer hätten auch als Heiden das volle Recht auf Freiheit. Doch die Wirklichkeit unter den Konquistatoren war anders. Die Indianer mussten Zwangsarbeit leisten auf Haziendas und in Bergwerken. Legitimiert wurde dies durch das im spanischen Kolonialsystem vorgesehene Encomiendasystem. Es sah zwar der Theorie nach Schutz und Förderung der Indianer durch ihre Gutsherren vor, war aber de facto nichts als Ausbeutung. Schutz boten die Reduktionen vor allem gegen die so genannten Mamelucken, Sklavenjäger aus der Gegend um São Paulo. Die Menschenräuber durchzogen die Wälder und Ebenen und versklavten auf brutalste Weise die Ureinwohner.

Einerseits also genossen die missionierten Indianer einen gewissen Schutz, andererseits aber zogen die Reduktionen die Mamelucken geradezu an: Hier gab es viele Indianer auf geringem Raum; zudem waren sie gut ausgebildet und deshalb als Sklaven gut zu verkaufen. So überfielen die Menschenjäger denn auch systematisch die Missionen. Jahrzehnte dauerte der Krieg. Regelrechte Schlachten, zu Lande und zu Wasser, wurden geschlagen. Viele Reduktionen wurden aufgegeben, zehntausende starben.

Die Wende kam erst, als König Philipp IV. den Jesuiten nach langem Drängen 1640 erlaubte, die Indianer mit Feuerwaffen auszustatten – eine große Ausnahme und ein gewagter Schritt in der spanischen Indianerpolitik. Mit diesen Waffen und ausgebildet durch Laienbrüder des Ordens, schlug man die Mamelucken zurück. Das Indianerheer aber wurde die größte Armee Südamerikas und zog an die fünfzig Mal für den König gegen die Portugiesen oder wilde Stämme in den Krieg.

Nach den Kriegen erlebten die Reduktionen eine Zeit der Blüte. Sie entwickelten sich zu barocken Kleinstädten, mit einer alles dominierenden Kirche in der Mitte. Vor allem in den Guarani-Reduktionen, dem Kernland des „Jesuitenstaates“, entstanden prächtige Gotteshäuser, von denen viele Orgeln und manche sogar Turmuhren hatten. Hergestellt wurden sie in den Reduktionen selbst – die Guarani verfügten über großes handwerkliches und musikalisches Talent, das die Patres eifrig förderten.

In den Reduktionen entstand ein quasi kommunistisches Wirtschaftssystem: Jede Familie erhielt den gleichen Anteil Land, das sie privat nutzen konnte, das aber an die Gemeinschaft zurückfiel, sobald das Familienoberhaupt starb. Daneben gab es Land, das alle gemeinsam bewirtschafteten. Auch die riesigen Rinderherden der Reduktionen waren Allgemeingut. Ein Drittel der Gemeinschaftserträge ging als Steuer an den König, ein Drittel an die Jesuiten, die damit die Kirchen und Schulen der Reduktionen unterhielten; das letzte Drittel diente dem Vorrat und der Versorgung der Witwen, Waisen, Alten und Kranken.

Funktionieren konnte das System nur, weil die Guarani aus ihrer Tradition heraus wenig Sinn für Privateigentum hatten. Im Innern der Reduktionen herrschte Tauschhandel, Geld war nur für den Außenhandel da. Den betrieben die Jesuiten über Agenten, weil kaum ein Europäer die Missionen betreten durfte. So sollten die Indianer vor verderblichen Einflüssen der Zivilisation (etwa Trunksucht), aber auch vor Bauernfängern und Krankheiten geschützt werden. Man verkaufte vor allem Ochsenhäute, Handwerksprodukte aus den Reduktionen und Yerbamatetee, das paraguayische Nationalgetränk. Durch besonderen Aufwand schafften es die Jesuiten, hochwertiges Yerbakraut zu züchten. Er wurde ein Verkaufsschlager.

Erkauft wurden all diese Erfolge durch ein patriarchalisches Kult-, Sozial- und Wirtschaftssystem, das das Leben der Indianer rund um die Uhr regelte. Sie wurden ständig beschäftigt. Damit ging ein Verlust an Freiheit einher, zugleich aber hatten sie einen reglementierten Achtstundentag und de facto eine Fünftagewoche.

Zwar hatten die Indianer in den Missionen auch Freizeit, die sie etwa mit Jagen oder einer Art Fußball füllten. Tatsache aber bleibt: Die Indianer konnten nicht mehr in den Tag hineinleben, wie sie es dank des fruchtbaren Bodens den Quellen nach vor der Ankunft der Jesuiten gehalten hatten. Die Missionare hatten trotz eines aus Indianern gebildeten Stadtrates in allem das letzte Wort über sie – „mitternachts musste eine Glocke sie sogar an ihre ehelichen Pflichten erinnern“, witzelte der Philosoph Hegel.

Trotzdem täte man den Jesuiten unrecht, würde man die Reduktionen als klerikale Miniüberwachungsstaaten abtun. Das Strafgesetzbuch der Reduktionen sah nur ausgesprochen milde Strafen vor. Die Todesstrafe oder Folter gab es – andes als in Europa – nicht. Die wenigen Mörder, die es in den Reduktionen gab, wurden zu „lebenslänglich“ verurteilt und meist nach zehn Jahren freigelassen. In mehr als 150 Jahren gab es keinen einzigen Aufstand gegen die Jesuiten an der Spitze der Reduktionen – obwohl sie mit nichts als ihrem Wort hunderten bewaffneter Indianern vorstanden. Die Indianer hatten eben etwas von diesem System: neben Schutz oft ein wenig Wohlstand, Hilfe bei Krankheit und Alter, die Frauen emanzipatorischen Fortschritt. Gerade den Indianerinnen sicherte das Jesuitenregime einen festen Platz und Rechte in der Reduktionsgemeinschaft. Sie waren, anders als vor der Gründung der Missionen, nicht mehr der Willkür der Männer ausgeliefert.

Es war ein ganz gutes Leben in den Reduktionen, aber alles scheint am Ende an den Patres gehangen zu haben. Nichts zeigt das deutlicher als die Folgen ihrer Verbannung, 1767 verfügt durch König Karl III. Es war eine politische Entscheidung, die vor allem aus der Hetze gegen die Jesuiten in Europa resultierte. Gehorsam leisteten die in soldatischer Strenge und Treue zum Papst ausgebildeten Jesuiten der Anordnung des Stellvertreters Christi auf Erden Folge. Eine Gegenwehr, wie sie im Film „Mission“ gezeigt wird, war die große Ausnahme. 1773 hob Papst Klemens XIV. den Orden auf. Ohne die Jesuiten jedoch verfielen die Reduktionen, so sie überhaupt überlebten, rasch. Heute sind nur noch Ruinen und Reste ihrer Pracht erhalten.

Der „Jesuitenstaat“ war natürlich kein Paradies. Er war nicht die ideale Republik Platos, wie Montesquieu dachte. Ebenso wenig Thomas Morus’ Utopia oder Campanellas Sonnenstaat, wie andere meinten. Maßlos übertrieben ist auch das Wort vom „Vanished Arcadia“, das der schottische Sozialist Robert Cunninghame Graham in den Reduktionen zu erkennenglaubte. Ernsthaft kann man auch nicht von der Verwirklichung eines christlichen Kommunismus, einer sozialistischen Theokratie oder der Gemeinschaft des Urchristentums sprechen, wie mancher spätere Deuter des frühneuzeitlichen Phänomens schwärmte. Unbestreitbar aber waren die Reduktionen ein imponierendes Experiment des Zusammenlebens und Wirtschaftens – nach den Worten Voltaires „ein Triumph der Menschlichkeit“.

PHILIPP GESSLER, 33, ist seit 1998 Redakteur in der Berlinredaktion der taz