Annäherung zu Ostern

Drei Tage lang wird auf Hispaniola gefeiert: Gagá. Ein karibischer Kult, der afrikanische Religionen mit Katholizismus, Spiritismus und anderen Glaubensrichtungen vermischt. Einst brachten ihn Saisonarbeiter aus Haiti in die Dominikanische Republik

von GABI KRINGS und REINER FRITZ

Karfreitag morgen. Rhythmisches Trommeln, stoßartiges Dröhnen langer, ausgehölter Bambusrohre und ein kräftiger Gesang durchdringen das dichte Grün der Zuckerrohrstauden. In farbenprächtigen Kostümen ziehen Menschen singend und tanzend durch die noch mit dem Tau der Nacht belegte Plantage. Ihre schwarzen Gesichter glänzen vom Schweiß, der sich in dünnen Rinnsaalen in den bunten Gewändern verliert. Immer mehr Leute kommen aus den umliegenden Hütten und gesellen sich zur Gruppe; ihre Hüften kreisen im Rhythmus, ihre Körper wiegen sich im Tanz. Das bunte Knäuel bahnt sich seinen Weg durch das Grün der Plantage.

Es ist Ostern und Zeit des Gagá, der im Ostteil der Antilleninsel Hispaniola drei Tage und Nächte ununterbrochen in den Straßen rund um die Arbeitersiedlungen der Zuckerrohrplantagen gefeiert wird. „Dreihundert Gläubige kommen zusammen. Sie sprechen haitianisches Kreolisch und singen Gesänge, die ich schon in den Tempeln von Haiti gehört habe“, beschreibt Hubert Fichte in seinen Reiseerzählungen „Petersilie“ den karibischen Osterumzug, als er Mitte der Siebzigerjahre auf der Suche nach den afroamerikanischen Religionen durch Mittel- und Südamerika zog.

Gagá wird in der Dominikanischen Republik seit ungefähr Anfang des vorigen Jahrhunderts zelebriert. Das schätzt man jedenfalls, denn „ganz genau weiß das niemand“, sagt June Rosenberg, die in den Siebzigerjahren als Erste damit begann, das Phänomen zu ergründen. Die Pionierin von damals gilt seit der Veröffentlichung ihrer Studien als die große alte Gagá-Expertin des Landes. Viele Jahre forschte die amerikanische Ethnologin mit ihren StudentInnen für die Freie Universität Santo Domingo (Universidad Autonomía Santo Domingo) über das synkretische Phänomen. Studierzimmer waren ihr dabei die bateyes – die Arbeitersiedlungen der Zuckerfabriken und -anbaugebiete: Ort der alljährlichen Gagá-Feierlichkeiten.

Um die 200 bateyes – schätzt man – gibt es landesweit; bei Montellano ist eins davon. Das liegt im Distrikt Puerto Plata, der Touristenregion im Norden der Insel, inmitten einer riesigen Plantage, im Schatten einer rostigen Zuckerfabrik, die ihre Blütezeiten längst hinter sich hat. Die letzte war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Zucker stand hoch im Kurs, die Zuckerindustrie boomte. Zu Tausenden wurden haitianische Leiharbeiter, so genannte braceros, von jenseits der Grenze in die Dominikanische Republik geholt, um zu Niedrigstlöhnen den Arbeiterbedarf zu decken.

Wie auch in Montellano wohnen nicht mehr nur braceros in den bateyes. Seit mehreren Generationen schon haben sich die Familien in den armseligen Barackensiedlungen fest installiert. Elektrizität kommt – wenn überhaupt – über wirre, provisorische Drähte, die dicht über den Dächern schaukeln. Wasser gibt es stundenweise an einigen Stellen, wo Rohre nackt aus dem Boden ragen. Geschäfte, Läden und Bars sucht man vergeblich. Lediglich kleine Kioske handeln mit dem täglichen Bedarf. Möglichkeiten der Zerstreuung und Ablenkung vom harten und beschwerlichen Alltag im Zuckerrohr sind selten, eigentlich kaum vorhanden. Umso wichtiger sind daher religiöse Feste oder Voodoo-Zeremonien wie auch der Gagá, bei dem ausgiebig getanzt, gesungen und Rum getrunken wird.

Was in Stimmung und Kostümen karnevalesk anmutet, darf den zutiefst religiösen Kern und Inhalt des Kults jedoch nicht verdecken. „Sieben Jahre hat sich jeder Einzelne von uns dem Gagá verpflichtet“, erklärt ein Mitglied der Gagá-Gesellschaft Panchó-Matéo aus Montellano. „Es ist ein Versprechen, und wir müssen es jedes Jahr erfüllen. Wir sind die afrikanische Rasse, es ist ein Brauch von uns Haitianern. Egal wo wir sind – in Haiti, in der Dominikanischen Republik, in Miami, in Frankreich –, überall müssen wir den Gagá machen.“

Als Gegenleistung versprechen sich die Teilnehmer von den Göttern des Gagá Wohlstand, Glück und Gesundheit. Den Einzelnen verleiht die Mitgliedschaft in der Gagá-Gruppe außerdem soziales Prestige, das ihnen die dominikanische Wirklichkeit vorenthält.

Allerdings kann nicht jeder Mitglied einer Gagá-Gesellschaft werden. „Die innere Struktur des Gagá ist kompliziert“, sagt June Rosenberg, „und gehorcht einer strengen Hierarchie aus gouvernementalen und militärischen Ämtern.“ Es ist eine Parodie auf die Kolonialgesellschaft des 18. Jahrhunderts, bestehend aus „Präsidenten“, „Ministern“, „Königinnen“, „Majoren“, dem Chor und den Musikern. Über allen steht der dueño del gagá, das spirituelle Haupt der Gruppe, der als Voodoo-Priester die Beziehung zu den Göttern unterhält.

Für viele Dominikaner ist der Gagá jedoch schwarze Magie. Vermischt werden da Mythen und Legenden mit Vorurteilen und Ängsten. „Sie beschmieren sich mit Öl und ziehen nackt durch die Straßen“, berichtet die Dominikanerin Mariella aus Barahona, die das von klein auf gesehen haben will. Alles, was jenseits der Grenze seinen Ursprung hat, gilt den meisten Dominikanern als verdächtig: wild, barbarisch und unzivilisiert. „Die Haitianer essen rohes Fleisch und trinken Tierblut“, behauptet sie.

Zwei Kontinente scheinen auf die Insel gepresst zu sein, und im Kopf vieler Dominikaner beginnt im Westen Hispaniolas bereits Afrika. Jene Ressentiments wurzeln in der dominikanischen Geschichte und ihrem traumatischen Verhältnis zum Nachbarstaat: Allein gelassen von Spanien, das nach der „Entdeckung“ 1492 sehr schnell das Interesse an Hispaniola verlor und sich dem strategisch günstigeren Kuba und dem an Gold und Bodenschätzen weitaus reicheren Kontinent zuwandte, fühlte man sich als gänzlich vergessenes und verstoßenes koloniales Bündel.

Angst und Schrecken verbreiteten bei den spanischen Siedlern und Konquistadoren die Sklavenaufstände im Westteil unter dem schwarzen General Toussaint L’Ouverture, die 1804 zur Vertreibung der französischen Kolonialherren und zur Ausrufung der ersten freien Sklavenrepublik Haiti führte. Die Aufständischen strebten noch unter dem Eindruck der Französischen Revolution die Befreiung der gesamten Insel von der Sklaverei an, sodass die spanischen Kolonialisten eindringlich Hilfe vom Mutterland forderten. Doch das schwarze Heer konnte nicht aufgehalten werden. 22 Jahre währte die haitianische Besetzung und wuchs sich zu einem ebenso langen Albtraum für die spanischen Großgrundbesitzer aus. Sein Ende brachte erst die Gründung der Dominikanischen Republik am 22. Februar 1844. Die politische Autonomie richtete sich folglich gegen Haiti, nicht aber gegen Spanien. Vom alten Europa löste man sich erst 1865 – weitere 21 Jahre später.

Bis heute beruht das dominikanische Nationalbewusstsein auf dieser direkt gegen den Nachbarn gerichteten Abgrenzung. Die Frage nach den Wurzeln wird daher auch eindeutig beantwortet: Man fühlt sich als Kind Spaniens, vielleicht noch der Tainos, der Ureinwohner Hispaniolas, obwohl diese von den spanischen Eroberern nachweislich ausgerottet und ab 1503 durch afrikanische Sklaven ersetzt wurden.

Das afrikanische Erbe wurde und wird jedoch von der Mehrzahl der Bevölkerung verleugnet. Aber: Über achtzig Prozent sind Mulatten oder Schwarze. Von offizieller Seite wird ein Farbenspiel besonders kreativer Art betrieben. „In unseren Pässen steht eine Hautfarbe, die es bei uns gar nicht gibt: color indio!“, amüsiert sich der Soziologe Dagoberto Tejeda Ortiz, Leiter des staatlichen Folkloreinstituts Indefolk.

Die Ignoranz bezüglich des eigenen Seins ist frappierend. So zeigt der Fahrer eines Sammeltaxis in Puerto Plata ohne Scheu mit dem Finger auf einsteigende haitianische Arbeiter und tut den anderen Fahrgästen sein Empfinden darüber kund: „Iii, wie hässlich die doch sind, diese schwarzen Neger.“ Dabei hätte ein Blick in den Spiegel ihn von dieser Äußerung eigentlich abhalten müssen.

Dieser Rassismus werde von der Elite des Landes instrumentalisiert und ideologisch ausgeschlachtet, sagt Tejeda Ortiz. Und verweist auf die „Bibel“ des dominikanischen Volks, 1983 erschienen und jährlich neu verlegt. Ihr Autor ist der heute 93-jährige Ex-Präsident Joaquín Balaguer. Neben zahlreichen schwarzenfeindlichen Abhandlungen legitimiert „La isla al revés“ das Massaker des Diktators Rafael Leonidos Trujillo Molino, der 1937 fast 18.000 in der Grenzregion lebende Haitianer (und Dominikaner) der Rassenhygiene wegen ermorden ließ. Das Stichwort war „Petersilie“: „Trujillo hatte den Auftrag erteilt, das Wort „Petersilie“ – „Perejil“ aussprechen zu lassen. Sagten sie „Pelejil“ wurden sie als Haitianer mit den Macheten zerhauen. Alle sagten Pelejil, wie sie es als Kinder oder als Einwanderer gelernt hatten“, schreibt Hubert Fichte. „Die Flüsse färbten sich rot, Straßen und Täler waren mit Leichenteilen voll.“

„Als ich 1963 auf die Insel kam“, schildert June Rosenberg ihre Eindrücke, „war die dominikanische Kultur noch ganz auf Europa fixiert. Jeglicher afrikanische oder haitianische Einfluss wurde sanktioniert. Die Vorurteile waren massiv.“ Dass diese langsam abgebaut werden, kann man an der Entwicklung der dominikanischen Musik sehen. Der Merengue, noch Anfang des letzten Jahrhunderts ausschließlich von Armen und Schwarzen getanzt, eroberte in den Dreißigerjahren die Tanzsalons der dominikanischen Oberschicht und gilt heute als Stolz der Nation. Auf diesem Weg befindet sich auch der Bachata, der dominikanische Tango, den Musiker wie Juan Luis Guerra aus der Schmuddelecke herausgeholt und popularisiert haben. Ähnliches scheint sich jetzt mit dem Gagá zu vollziehen, indem er den liturgischen Kalender mehr und mehr verlässt. „In den letzten Jahren waren Gagá-Gruppen selbst beim Karneval in der Hauptstadt vertreten“, sagt June Rosenberg, eine für sie bemerkenswerte Tatsache, weil der Karnevalsumzug traditionell mit dem dominikanischen Unabhängigkeitstag zusammenfällt.

Die Annäherung der Bevölkerung vollzieht sich vor allem über die elementaren Wurzeln von Musik und Tanz. An vielen Universitäten und Tanzschulen wird der Gagá inzwischen angeboten und gelehrt, ebenso finden regelmäßig Gagá-Festivals statt, was vor allem bei der gebildeten dominikanischen Mittelschicht zunehmend Akzeptanz findet.

„Die schwarze Komponente in der Musik und im Tanz ist kräftiger und ausdrucksstärker“, sagt Josefina Miniño, Chefchoreographin des staatlichen Folkloreensembles in Santo Domingo. Sie hat längst den Gagá in ihr Repertoire aufgenommen. Aber es bleiben letztlich künstliche, theatralische Formen, die bis in die Widersprüchlichkeit der Person Miniños hineinreichen, wenn sie sich zuerst als Enkelin spanischer Vorfahren sieht und ihre Identifikation mit dem afrikanischen Element auf den ästhetischen Ausdruck reduziert.

Wesentlich radikaler ist da die Einstellung von Dagoberto Tejeda Ortiz. Anachronistisch und selbst verleugnend nennt er die Negation der afrikanischen Identität, die bei den DominikanerInnen in ihrer äußeren Erscheinung, in Gestik, Mimik, Habitus doch so offensichtlich ist. Dennoch ist er davon überzeugt, dass über den Gagá ein kulturell bewusstseinserweiternder Prozess in Gang gesetzt wurde. Auch wenn sich seine Rezeption im Moment noch auf das im dominikanischen Alltag Wesentliche – Musik, Alkohol und Erotik – beschränkt, wirkt der Gagá doch als Identität stiftendes Medium in Richtung einer offeneren Gesellschaft, die den Mythos ihrer ausschließlich spanischen Herkunft langsam hinter sich lässt.

Gabi Krings, 33, Romanistin, und Reiner Fritz, 34, Politologe, beide freischaffende Journalisten, lebten und arbeiteten vier Jahre in der Dominikanischen Republik. Jetzt wohnen sie in Freiburg