Wo die Schnitzel herkommen

Die Black Box Schlachthof ist eines der letzten Tabus. Rinder werden heute nicht mehr in Berlin getötet, sondern irgendwo im Umland. Die direkte Verbindung zwischen lebendem Tier und Fleisch auf dem Teller ist vielen unangenehm

von HELMUT HÖGE

Eine Blitzumfrage ergab jüngst: Kein Mensch weiß mehr, wo der Schlachthof ist – das heißt, wo jetzt die Tiere massenhaft getötet werden. Eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft, wie der Leiter des Hannoveraner Expo-Themenparks „Ernährung“ meint. Und die Tabuisierung nimmt noch zu – seitdem immer mehr Industrien hier dicht machen und stattdessen saubere symbolische Produktionen in Dienstleistungsbüros entstehen. Der Schlachthof aber bleibt: Irgendwohin ins Umland verlagert – und dort verborgen hinter einer möbelhausähnlichen Fassade – werden nach wie vor täglich tausende von Tiere hinten angeliefert, reingetrieben und vorne als Schnitzel wieder rausbefördert.

Berlin hatte natürlich – wegen der Teilung der Stadt – zwei Schlachthöfe. Der im Osten, an der Landsberger Allee, wurde nach der Wende geschlossen, auf dem Gelände soll ein vornehmer Wohn- und Einkaufskomplex entstehen. Der 1993 privatisierte VEB wurde nach Hellersdorf umgesetzt. Dort wird aber nicht mehr geschlachtet. Die Firma unterhält nur noch einige Fleisch-Verkaufsfilialen sowie einen Partyservice. Auch der kommunale Westberliner Schlachthof in der Beusselstraße wurde stillgelegt. Auf dem Gelände befindet sich nur noch die Firma Schneider, die Hammel schlachtet.

Die Großstadt bezieht ihr Rind- und Schweine-Frischfleisch jetzt zum einen von der Firma Thien, die einen modernen neuen Schlachthof in Britz bei Eberswalde errichtete, und zum anderen von der bereits wegen ihres früheren Ost-West-Fleischhandels berühmt-berüchtigten Firma Moksel, die nach der Wende einen Großschlachthof in Golzig bei Cottbus eröffnete. Von diesen beiden Tiertötungs- und Zerlegungszentren wird das Fleisch täglich per LKW in die Läden der Hauptstadt transportiert.

Früher gab es noch einen weiteren Schlachthof in Berlin – in der Lehrter Straße gegenüber dem dortigen Gefängnis. Dieser Schlachthof ist jetzt eine Kulturfabrik und nennt sich „Slaughterhouse“. In den Zwanzigerjahren wurde Upton Sinclair berühmt mit einer gründlichen Recherche über die fürchterlichen Zustände im Slaughterhouse von Chicago – damals der größte Schlachthof der Welt. Für Bertolt Brecht waren die dortigen Zustände dann beispielhaft für die Brutalität des Kapitalismus überhaupt.

Vor etwa 20 Jahren besuchte ich den damals modernsten Schlachthof Europas – bei Delmenhorst. Die Arbeit war derart rationalisiert, dass es z. B. Arbeiter dort gab, die nichts anderes taten als Augen auszustechen. Laufend fielen sie im Streit mit ihren langen, gefährlichen Messern übereinander her, weil die Arbeit sie schier verrückt machte. Heute dürfen sie nur zwei Stunden arbeiten, dann werden sie erst mal abgelöst. Damals gab es im Schlachthof eine Rutsche in den Keller, dort kamen die Innereien hin. Sie wurden von sogenannten „Kuddelfrauen“ (Türkinnen) aussortiert. Man ließ mich nicht zu ihnen, weil man befürchtete, ich könnte ohnmächtig werden. Seitdem muss ich immer lachen, wenn ich in Filmen von jungen, mutigen Regisseuren Szenen sehe, in denen rohe Burschen auf dem Land ein Schaf oder ein Schwein abstechen. Die Filmemacher halten das für blutig-brutalen Realismus – und es ist doch bloß eine kitschige Idylle, so wie der Stierkampf in Spanien oder die Fuchsjagd in England. Solche Bräuche werden von pazifistischen Tierschützern immer wieder gerne angegriffen. Es zeugt jedoch von feigem Mut. In der Mark Brandenburg gab es vor einiger Zeit einen Restaurant-Besitzer, der Öko-Steaks von Angus-Rindern anbot, die er selber schlachtete. Die Tiere grasten vor dem Restaurant. Diese Verbindung zwischen den lebenden Tieren draußen und ihrem Stück Fleisch auf dem Teller missfiel den Gästen derart, dass der Restaurant-Besitzer die Rinder schließlich woanders weiden lassen musste. Seine grün-alternativen Gäste wollten die Verbindung vor allem nicht ihren Kindern zumuten.

Ich kann mich auch noch gut an den Schock erinnern, den ich bekam, als ich bei meinem Opa eines Sonntags Hasenbraten aß und erfuhr, dass es sich dabei um mein Lieblingskaninchen Susanne handelte. Ich weinte und konnte nicht mehr weiteressen. Auf dem Land hält man solche Skrupel zu Recht für verlogene städtische Sentimentalität. Es sei hier jedoch an Eugen Kogon erinnert, der darauf hinwies, dass es sich bei den brutalen KZ-Wächtern zumeist um Bauernburschen handelte. Auch als ich während der Wende in der Rindermast einer LPG arbeitete, hatte ich oft das Gefühl, wie ein KZ-Wächter zu handeln. Besonders wenn wir – mit Elektroschockstäben und Mistgabeln – die Tiere umtreiben mussten. Ich weiß, dass die DDR-Schlachthöfe sich oft darüber beschwerten, dass sie ganze Partien aus den Häuten rausschneiden mussten, weil sie durch die brutale Behandlung der Tiere von Blutergüssen übersät und somit unbrauchbar geworden waren.

„So lange wie es KZs für Wale gibt, wird es auch welche für Menschen geben“, meinte Claude Lévy-Strauss einmal. Ich neige ebenfalls dazu, keine großen Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu machen. Dennoch gehen mir viele Tierschutz-Aktivitäten zu weit – bzw. versuchen das Problem vom falschen Ende her anzugehen. Besonders rührend (hilflos) sind in diesem Zusammenhang die vornehmlich ostdeutschen Einrichtungen „Tierschutz-Cafés“. Auch die aktuellen politischen Diskussionen über das Tierschutzgesetz – das Tier als „Sache“ – und über die Mindestkäfiggrößen in den sogenannten Hühner-KZs greifen zu kurz.

Als die Deutschen die Sowjetunion überfielen und dabei immer wieder Lebensmittel requirierten, hatten sie es vor allem auf (freilaufende) Hühner abgesehen – Hühnerraub war eine richtige Macke von ihnen. Eine weißrussische Partisanin berichtet, dass sie sich als junges Mädchen – wenn die Deutschen auf den Hof kamen – jedesmal unterm Bett versteckte. Ihre Eltern hatten vier Hühner und einen Hahn, die im Winter im Haus lebten. Auch sie versteckten sich unterm Bett und gaben keinen Mucks von sich, so lange die Deutschen da waren!

Auf den modernen Schlachthöfen gibt es neuerdings eine spiralförmige Todesrampe, die – von einer Öko-Amerikanerin – so konstruiert ist, dass die Tiere es angeblich nicht mehr mitbekommen, wenn das jeweils vorderste getötet wird. Und die Schlachthof-Arbeiter versucht man derweil mit ausgeklügeltstem Psychotraining bei Laune zu halten.