Bücher in die blaue Tonne

Am morgigen „Welttag des Buches“ wird wieder einmal gelogen wie gedruckt

Zum „Welttag des Buches“ am Ostersonntag, begangen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, lügen sie wieder wie gedruckt, die willfährigen Schergen der Hochkulturindustrie. „Weil Lesen bildet“, schickt die notorische „Stiftung Lesen“ öffentlichkeitswirksam ein fettes Buchpaket ins Big-Brother-Haus. Die zentrale Feierveranstaltung in Berlin, die sich mit Doris Lessing und Robert Gernhardt fein herausputzt, setzt ganz auf Weltkultur. Und Computerguru Joseph Weizenbaum posaunt überall groß herum, dass kritisches Denken einzig durch Bücherlesen erworben werden könne. Natürlich wagt niemand zu widersprechen, schon gar nicht im Gutenberg-Jahr, denn das gedruckte Wort ist, zwischen zwei Deckel gepresst, praktisch unantastbar. Als Buch kann es sich aufführen, wie es will – niemand wollte Fische drin einwickeln oder Fenster damit nachpolieren. Als Buch genießt es sogar einen ungeheuren Respekt und steht in der Evolution noch weit über dem Menschen. Bester Beweis: Der bekannte Bücherverherrlicher Lichtenberg, der die Schuld immer dem Leser zuschob („Affe“, „Hohlkopf“) und nie den Büchern.

Bei mir zu Hause liegen eben diese Bücher rum, als wäre ich ein großer Leser. „Ah!“, sagen die Besucher ehrfürchtig, wenn sie der Büchermassive in meiner Wohnung ansichtig werden: „Du bist bestimmt ein großer Leser!“ Das stimmt aber gar nicht; ich habe nur zu wenig Platz. Seit Kindertagen hat man mir nämlich beigebracht, ein Buch sei ein guter Freund. Leider habe ich viele falsche Freunde mit nach Hause gebracht: An Kaufhaus-Grabbeltischen habe ich sie aufgesammelt, für 2 Mark 95 das Stück, und aus so genannten modernen Antiquariaten manch aufgetakelte Gesamtausgabe abgeschleppt. Ich war auch extrem oberflächlich: Der Neuerscheinungen wegen bin ich in Buchhandlungen und Büchereien gelaufen, nahm arme Debütanten und dumme Bestseller mit, nur um mitreden zu können. Von Lesen war da nie die Rede; dennoch kriegte ich den Hals nicht voll. Hier schnell ein Rezensionsexemplar abgegriffen, da einen entfernten Bekannten um sein druckfrisches Werk angegangen – und niemals habe ich auch nur ansatzweise versucht, den vielen Büchergeschenken Einhalt zu gebieten, mit denen man als „großer Leser“ überschüttet wird. Dabei habe ich den Stapel Geburtstag 1999 nicht einmal zur Hälfte durchgeschaut, und Weihnachten 1999 steht völlig aufgeweicht unter der Spüle. Von wegen „kritisches Denken“!

Da die Bücher, die ich im Laufe eines Jahres lese, also höchstens den Platz eines Schuhkartons einnehmen, kann ich eigentlich nicht verstehen, warum ich zwischen grotesk aufgetürmten Bücherformationen sitze, alle meine Regale schon in zweiter Reihe belegt sind und ich dauernd über irgendwelche Stöße von Stadtbücherei-Eigentum stolpere. Jeder weiß, dass selbst riesengroße Leser selten mehr als zwei Bücher pro Woche bewältigen. Und ein einmal gelesenes Buch schaut einen doch mit dem Arsch nicht mehr an! Was sind denn das für falsche Freunde? Warum setzen wir die nicht längst hochkant vor die Tür?!

Es ist wohl jenes Tabu, das interessierte Kreise (D. Lessing! R. Gernhardt!) hochhalten: Man darf Bücher nicht einfach wegschmeißen. Bücher wegzuschmeißen ist ungefähr so hoch angesehen wie Bücher zu verbrennen oder Kinderpornos zu vertreiben. Wird es nicht langsam Zeit, dass wir uns von dieser Irrlehre befreien? Wir haben doch mittlerweile Spielekonsolen und Kabelfernsehen, Internet und CD-ROMs, die in der kleinsten Hütte Platz finden. Leichten Herzens sollten wir deshalb den Gutenbergschen Papiermüll in die blaue Tonne kippen können. Er nervt! MARK-STEFAN TIETZE

Hinweis:Das Buch ist praktisch unantastbar, genießt einen ungeheuren Respekt und steht in der Evolution sogar noch weit über dem Menschen