Im Kopf des gefährlichen Hausmeisters

Quentin P. ist ein sadistisches Kind in einem 30-jährigen, ganz normal heruntergekommenen Körper. Er kann morden, ohne dass es weiter auffällt. Joyce Carol Oates beschreibt ihn in ihrem Serienmörderroman als „Zombie“. Bei ihr kann Sprache sehr eispickelig sein
von GEORG SEESSLEN

Sich schreibend in den Kopf eines anderen Menschen zu bewegen ist eine der wirkungsvollsten Methoden der modernen Literatur. Joyce Carol Oates bewegt sich schreibend in den Kopf von Quentin P., Sohn eines angesehenen Professors und einer Mutter, die sich angestrengt um die Familie sorgt; Bruder der höchst vernünftigen Junie, die ihm trotzdem Zuneigung entgegenbringt; Enkel einer alten Dame, die sich von ihm den Rasen mähen lässt und ihn trotz allem für einen lieben Kerl hält.

Da war nämlich vor Jahren eine dumme Sache mit einem schwarzen Jungen. Der Professor konnte sich einen Rechtsanwalt leisten, mit dessen Hilfe Quentin glimpflich davonkam. Nun befindet er sich auf Bewährung und in der Obhut eines Psychiaters, schluckt seine Uppers und Downers und arbeitet als Hausmeister in einem Mietshaus, das die Familie geerbt hat und an Studenten vermietet. Quentin macht seine Arbeit ordentlich, vermeidet aber jeden Blickkontakt. Im Keller hat er ein Labor, ein Eispickel ist sein wichtigstes Instrument. Joyce Carol Oates schreibt im Kopf eines Serienmörders.

Sie schreibt sich in Quentins Kopf, aber Quentin ist in seinem Kopf nicht zu Hause. Jedenfalls nicht so, wie jemand in seinem Kopf zu Hause ist, der sein Ich und die Welt, die auf es einstürmt, die Begierden und Gefahren nach allgemeiner Art zu kontrollieren versucht. Quentin hat einen großen Traum. Einen Zombie will er haben – Diener, Spiegel, den anderen Menschen, zu dem für ihn sonst kein Weg führt: „Ein echter Zombie wäre mein für immer. Er würde jedem meiner Befehle, jeder meiner Launen gehorchen. ,Ja, Meister‘, würde er sagen & ,Nein, Meister‘.“

Quentin hat sich aus einem Buch die entscheidenden Seiten über Lobotomie herausgerissen. Nun fängt er sich Jungen ein, von denen er weiß, dass sie niemand vermissen wird, und versucht in seinem Labor mit dem Eispickel den Zombie seiner Träume aus ihnen zu machen. Die Versuche schlagen fehl, und Quentin hat das Problem – er nennt es selbst so – der Entsorgung. Schließlich findet er ein neues Opfer, einen Jungen, der in der Nachbarschaft wohnt und von dem man bestimmt nicht annehmen kann, dass ihn niemand vermissen wird. Aber diesmal ist Quentin besessen, kein anderer Gedanke hat mehr Platz in seinem Kopf.

Soll ich das Ende des kleinen Romans verraten? Es gibt keines. Wir verlassen Quentins Kopf in fast demselben Zustand, in dem wir hineingekommen sind.

Es ist natürlich die literarische Technik, die Joyce Carol Oates’ Arbeit von den gewohnten allegorischen oder satirischen Serienmördergeschichten unterscheidet, nach denen die amerikanische Literatur halbwegs süchtig scheint. Man kann in „Zombie“, wenn man will, ein Bild von „Beziehungslosigkeit“ sehen, von einer kalten Gesellschaft, die blind wird, wenn es darum geht, das ideale Bild gegen den inneren Wahn zu verteidigen; und man kann in Quentin P. statt des schrecklichen Monsters eine konsequente Fortsetzung des kleinbürgerlichen, kleinfamiliären, kleinurbanen Lebens sehen, in der er sich wie ein halb erkanntes Krebsgeschwür verhält. Der Mensch ohne Gewissen und ohne Bewusstsein, aber mit höchstem Talent zur sozialen Mimikry.

Quentin ist wahnsinnig, gewiss, und zwar auf jede erdenkliche Weise. Ein sadistisches Kind in einem 30-jährigen, ganz normal heruntergekommenen Körper. Das morden kann, ohne dass es weiter auffällt, weil es in seinem Wahn die Schwäche seiner Umwelt erkennt und beim Entsorgen auszunutzen weiß: die Apathie, mit der man eine Fassade aufrechterhält. Einen Zombie will Quentin, „mit klaren Augen“, aber einen, der nichts sieht und der nichts denkt, und vor allem: einen, der nicht verurteilt. Quentin mordet nicht nur um endlich etwas zu haben, was ihm allein gehört, also als letzter Akt der Liebe, sondern auch um endgültig im Blick seiner Schöpfung zu verschwinden.

Und Quentin selbst ist ein Spiegel. Nicht durch den unglückseligen Sohn wird der Professorenvater „mit dem Runzelarschloch-Mündchen“ gefällt, sondern durch die Enthüllungen über seinen einstigen Mentor an der Universität, der Versuche mit behinderten Kindern unternahm, um an ihnen die Wirkung nuklearer Emission zu messen, der ihnen verstrahlte Milch zu trinken gab und der Häftlingen die Hoden „ionisierte“. Quentin, natürlich, erkennt die Heuchelei: „Warum diese angestaubte Sache jetzt, so viele Jahre danach, enthüllt wurde & warum die Leute so taten, als wenn sie das auch nur einen Scheißdreck interessierte, weiß ich nicht. Aber ich musste lachen.“

Vielleicht also gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was damals die Wissenschaft mit den Körpern der Kinder gemacht hat, und dem, was Quentin P. mit den Körpern seiner Jungen mit dem Eispickel macht. Vielleicht auch nicht. Die Lektüre von Quentins Kopf – jedenfalls dessen, was er in eine Form bringt, die der Sprache gleicht, mit der wir uns über Quantenphysik oder Milchpreise unterhalten – muss in uns ja dieses verzweifelte Verlangen nach Zusammenhängen auslösen. Nach dem, wofür Quentins Krankheit Metapher sein muss. Alles andere wäre nicht normal.

Aber „Zombie“ ist ein literarischer Text. Ein ziemlich guter sogar. Also ein Wagnis. Für die Autorin und für uns. Sprache kann sehr eispickelig sein. Und Poesie sehr hinterhältig.

Joyce Carol Oates: „Zombie“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 213 Seiten, 34 DM