Kein Sonntags-Blues in New York

Nachmittags Coney Island, um den Horizont zu weiten und durchzuatmen, abends Jamsession im „Small’s“. Ein kleiner Leitfaden für einen wunderbaren lazy sunday in der Stadt, die angeblich niemals schläft, aber müde macht
von BARBARA SCHAEFER

Ein Stapel Zeitungen bedeckt den Boden. Sonntags kostet die New York Times 2,50 Dollar, wochentags nur 60 Cents. Dafür ist sie aber auch viermal so dick. Also wühlt man sich durch die Zeitung, mit Kaffee und Croissant. Eigentlich könnte man den Tag mit dem Magazin, dem Buchteil, dem Feuilleton verbringen. Aber was wäre das für ein Sonntag in New York!? Die Book-Review ist genau richtig für unterwegs.

Eine Dreiviertelstunde fährt man ans Meer – mit der U-Bahn. Das ist vielleicht nicht das, was man mit New York assoziiert, doch auch wenn man nur ein paar Wochen hier verbringt und zuerst meint, man könne gar nicht genug bekommen von Häusern und Menschen und Leben – plötzlich gibt es einen Punkt, da sind die Augen müde, der Kopf ist voll, die Stirn will Horizont. Am leichtesten ist das auf Coney Island zu haben. Vorausgesetzt, der Sommer ist vorbei. Dann ist der Strand leer, verglichen mit den Straßen Manhattans.

Auf der teakhölzernen Promenade flanieren russische Senioren, wenige Jogger rennen, und sie haben nicht die gestählten Körper, die aus den Fitness-Studios von Chelsea herausstolzieren. Auf dem Pier wird geangelt, Spanisch sprechende Väter zeigen ihren Söhnen, wie man die Rute auswirft. Einige afroamerikanische Frauen mit verzöpfelter Haarpracht sitzen zusammen auf einer Bank, sehr voluminös, ganz Körperlichkeit. Coney Island macht einen leicht ramponierten, schönen Eindruck. Eine rostige, seit Urzeiten stillgelegte Achterbahn steht hier, schön wie eine Industrieruine. Vom einstigen Luna Park, dem Vergnügungsviertel der Jahrhundertwende, sind nur Stände von Billigheimern geblieben, mit Plastikramsch und Sonnenbrillen, einige Spielhöllen mit Automaten, Fahrgeräte für Kinder und ein kleines Riesenrad. Die Aufschrift „Freak Show“, die schon fast von der Fassade purzelt, erinnert noch an Zeiten, als menschliche Attraktionen ausgestellt wurden, Affenmenschen, Raupenmenschen, Indianer, der Elefantenmann, und Il Gigante: Hugo Baptiste, 1879 – 1916, Zirkus-Riese, angebliche Größe 269 Zentimeter, tatsächliche Größe 230 Zentimeter, so stand es im Guinness-Buch.

Ich reihe mich ein in die Flaneure, trotte das Trottoir entlang, suche mir ein Bänkchen und verbringe eine geschlagene Stunde damit, aufs Meer hinauszuschauen. Genau das wollte ich schließlich: Horizont. Dann freut man sich wieder auf Getümmel, auf Häuserschluchten und Menschenmassen, auf den Spätnachmittag in Greenwich Village.

Ein Geschiebe auf den Bürgersteigen wie wochentags zur Lunchzeit im Financial District. Viele strömen zu den Akrobaten, die unterm Triumphbogen am Washington Square turnen. Eine Augenweide, der mit den Rastalocken zumal. Sein brauner Waschbrettbauch glänzt in der Sonne, wenn er durch die Lüfte fliegt, in Salti und Sprüngen. Er kann Handstandliegestütze, bis das Publikum johlt. Und er kann ein rohes Ei mit den Schulterblättern auffangen – und wieder hochwerfen. Sogar hier, mitten in der Stadt, ist zu spüren, dass das ein klarer, schöner Abend werden wird. Da gibt’s nur eins: rauf aufs Empire State Building.

Endlich, endlich, endlich spuckt der Aufzug auch mich auf die Plattform. Gerade noch zur rechten Zeit. Die tiefstehende Sonne wirft goldene Schleier über die Stahlspitze des Chrysler Buildings, streicht eine Seite des Flat Iron Buildings neu an, und bevor die Sonne hinter New Jersey untergeht, liegt ein roter Schimmer über der Skyline. Dann gibt es einen seltsamen, magischen Moment. Für einige Augenblicke ist Manhattan eine wirkliche Wüste, steinern, bleigrau, lichtlos und öde liegt die Insel im Wasser wie ein toter Wal. Aber schon nach wenigen Minuten wird die Stadt schön und schöner. Lichter gehen an, Reklametafeln, rote Rücklichter der gelben Taxis, Stockwerke der Büro-Hochhäuser flimmern wie alte Röhrenfernseher, wenn man sie einschaltet. Der Himmel glimmt noch rot über New Jersey, über der Bronx ist es bereits stockfinster. Bis Mitternacht ist die Plattform geöffnet, aber was soll man hier bis Mitternacht?

Zunächst brauche ich ein Nickerchen. Ich liege auf dem Bett der Wohnung in Chelsea, das Fenster geöffnet. Zu sehen ist nur eine Backsteinmauer, aber zu hören ist New York: Verkehrsgemurmel, Autohupen, Polizeisirenen, Musik aus einer Nachbarwohnung, Stöhnen und spitze Schreie aus einem anderen Stockwerk und das Krächzen einer Krähe auf dem Dach gegenüber. Um neun bin ich wieder unterwegs, der Magen knurrt. Ich schlendere zum Balthazar’s. Das ist tollkühn. Das Balthazar’s ist das Lokal schlechthin in SoHo, das must, jedenfalls diese Woche. Ich habe nicht reserviert, aber vielleicht haben sie ein Katzentischchen frei. Ein In-Lokal in SoHo ist keine Flüsterkneipe, wo Ober beflissen auf dicken Teppichen umherhuschen. Ich öffne die Flügeltür, fröhlicher Bistro-Lärm brandet auf die Straße. Der junge Mann an der Bar ist von atemberaubender Schönheit, die langen Rasta-Locken zu einem losen Zopf gebändigt, drei Köpfe größer als ich. Aber nicht deshalb sieht er auf mich herab, sondern weil er Platzanweiser im Balthazar’s ist, ein Job, den schließlich die ganze Welt gerne hätte. Er sagt so ungefähr in meine Richtung „eine halbe Stunde warten mindestens“, aber die Botschaft ist klar: Vergiss es, Baby. Ich segle zur Flügeltüre wieder hinaus, der freundlich blickende Mann, dem ich sie fast in den Bauch ramme, ist Kevin Costner.

Kurz vor elf, mit dem Taxi zum Blue Note. Nancy Wilson singt in dem Jazzklub, fast um den ganzen Block stehen Menschen am Eingang des Lokals. Endlich im Lokal, entsetzt mich die Atmosphäre. Tische in Reih und Glied, zu viele Stühle reingepfercht, undezente Hinweise auf den Souvenir-Shop des Lokals, das ganze kostet 42 Dollar Eintritt, Mindestverzehr 5 Dollar. Das ist kommerziell, aber ist das Jazz? Ich wurstle mich an der Schlange vorbei wieder hinaus. Was nun?

Zeit für einen Drink. Durch das pulsierende Village spaziere ich zur White Horse Tavern. Ich finde einen Platz an der Theke, der Bartender mixt mir einen schönen Vodka Tonic. Gediegene Kneipenatmosphäre, die Musik für hiesige Verhältnisse nahezu Zimmerlautstärke, die Gäste sehen aus, als würden sie sich über ernsthafte Themen unterhalten. Aber vielleicht ist das nur Einbildung, nur etwas, was ich hier erwarte, weil die White Horse Tavern die Stammkneipe von Dylan Thomas, dem walisischen Dichter, war. Sein überlebensgroßes Foto hängt über seinem Stammplatz, diverse Zeitungsausschnitte dazu. Dylan Thomas hat sich hier buchstäblich zu Tode gesoffen, am 4. November 1953 kippte er 18 Whiskeys und verschied. Das habe ich nicht vor.

Mittlerweile ist es Mitternacht, ich rufe die Auskunft an. 411, eine kostenlose Telefonnummer. „Ich brauche die Adresse des Small’s, das ist ein Jazzklub“. Der Auskunftgebende scheint es zu kennen, „have fun“, sagt er noch.

Also wieder durch die Straßen, an einem Kiosk schnell noch zwei Biere gekauft, denn das Small’s ist eines der letzten BYO: Der Klub hat keine Alkohol-Lizenz, die Gäste bringen ihre Getränke mit. Der Eintritt kostet 10 Dollar, der junge Mann, der auf der Kellertreppe sitzt und kassiert, erklärt, der Schlagzeuger sei 79 Jahre alt und habe zusammen mit Charlie Parker gespielt. Wenn das kein Argument ist. Das Small’s ist wirklich sehr small. Sehr klein. Verschämt hole ich ein Bier aus der Handtasche, was für eine seltsame Situation. Die Jungs am Nebentisch haben damit weniger Probleme, ganze Plastiktüten voll Alkohol haben sie hereingetragen. Die Musiker, Trompete, Tenor-Sax, Bass und ein Pianist, der aussieht wie 16, spielen dunkel, cool, schräg. Jazz. Ich fühle mich unendlich wohl, bin froh, dass ich nicht im Blue Note hängen blieb. Gegen drei Uhr füllt sich das Small’s. Mancher hat ein Instrument unterm Arm. Nun gibt’s Jam Session bis acht Uhr morgens. Ich passe.

Es sind nur ein paar Blocks bis zur Wohnung in Chelsea, also gehe ich zu Fuß. An jeder Ecke könnte man noch ein belegtes Sandwich kaufen, oder einen Blumenstrauß. Jede fünfte Tür eine Kneipe. Man hört Gelächter, Musik, Nachtgeräusche. Vielleicht ist was dran am Klischee von „the city that never sleeps“. Aber auch wenn diese Stadt nie schläft: Tut mir leid. Ich bin jetzt müde.

Hinweis;Das Balthazar’s ist das Lokal schlechthin in SoHo, ein absolutes „must“, zumindest diese Woche. Also nichts wie hin