Miteinander ins Gespräch kommen

Seit 21 Jahren unterrichtet Ruthild Hockenjosin Berlin christliche und muslimische Kinder

taz: Berlin ist eine multiethnische Stadt. Warum gibt es Ihrer Ansicht nach noch keinen multireligiösen Unterricht?

Ruthild Hockenjos: Die beiden großen Kirchen halten multireligiösen Unterricht nicht für wegweisend. Sie wollen, dass Religionsunterricht in ihrer Hand bleibt. Die Kirchen wollen ein deutliches konfessionelles Profil. Sie messen deshalb der eigenen Konfession mehr Gewicht bei als der Chance, grundsätzlich religiösen Fragestellungen zu begegnen.

Sie unterrichten seit 21 Jahren gemeinsam deutsche und muslimische Schüler im freiwilligen Unterrichtsfach Religion. Wie kam es dazu?

Das hat sich zwangsläufig ergeben. Es gab schon vor 20 Jahren in Kreuzberg sehr viele Kinder nichtdeutscher Herkunft und nur einen ganz kleinen Rest deutsche Kinder. Anfänglich habe ich nur die Deutschen unterrichtet. Viele nichtdeutsche Kinder und deren Eltern wollten aber auch Religionsunterricht, und die sind dann dazugekommen. Da musste ich dann auch islamische Elemente integrieren. Anfangs konnte ich mit dem Koran überhaupt nichts anfangen, und damit tue ich mich immer noch schwer. Mit der Zeit habe ich jedoch gelernt, Vielfältigkeit zuzulassen. Es wurde mir deutlich, dass ich mich mehr und mehr öffnen muss und dass ich mich nicht mehr nur über das Christentum definieren kann.

Wie muss man sich Ihren multireligiösen Unterricht vorstellen?

Ich versuche eine Gratwanderung im Umgang mit biblischen Geschichten zumachen. Ich erzähle die Parallelgeschichte aus den anderen Religionen. Ich reagiere außerdem auf aktuelle Situationen, die von den Kindern eingebracht werden. Manchmal werde ich von den Klassenlehrern aufgefordert, zu einem bestimmten Thema etwas Religiöses beizusteuern. Ich orientiere mich auch an den Festtagen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren Schülern und Schülerinnen gemacht?

Anfänglich wollte ich nach einem halben Jahr alles schmeißen, weil ich mit der Aggressivität und der Sprache der türkischen Jugendlichen, insbesondere der Jungen, nicht klargekommen bin. Es hat sich schlagartig geändert, nachdem ich den Jugendlichen klargemacht hatte, dass ich ihnen gar keinen Unterricht geben muss. Ich sagte ihnen, dass ich so viele Kurse mache, dass ich gar nicht auf sie angewiesen sei. Da waren sie völlig platt, das kannten sie nicht. Seitdem werde ich auf dem Schulhof immer wieder von den Jugendlichen angesprochen, dass sie Religionsunterricht wollen.

Was reizt muslimische Jugendliche an Religionsunterricht, der von einer Christin gegeben wird?

Für die Jugendlichen in der Hauptschule gibt es keinen Ort, wo sie über Fragen, die sie bedrängen, reden können. Sie haben sehr viele Fragen zum Islam, auch über andere Religionen. Im Unterricht diskutieren sie darüber, wie sie zum Beispiel Ramadan verbringen. Dass die Aleviten zu einer ganz anderen Zeit fasten. Manche Jungen erzählen ganz stolz, dass sie Muslim sind, aber nicht fasten. In den Elternhäusern wird ein ganz unterschiedlicher Islam gelebt. Für die meisten ist es eine Befreiung, zuhören, dass es unterschiedliche Erfahrungen und Möglichkeiten gibt. Dass Religion nicht etwas Monolithisches ist.

Werden Sie als Nichtmuslimin von den muslimischen Schülern akzeptiert?

Sie vergewissern sich immer wieder, dass ich auch an Gott glaube. Sie akzeptieren mich, weil sie merken, dass ich etwas mit Religion zu tun habe. Welche das ist, ist nebensächlich. Die deutschen Jugendlichen sind übrigens genauso wissbegierig.

Wird die fundamentalistische Islamische Föderation, die jetzt auch Unterricht anbieten darf, genauso Erfolg bei den muslimischen Jugendlichen haben?

Nach meiner Auffassung ist der Zug für konfessionellen Unterricht längst abgefahren, weil es unter türkischen und arabischen und exjugoslawischen Jugendlichen eine ganze Bandbreite an unterschiedlicher Religiosität gibt.

Es gibt eine ganze Reihe von muslimischen Jugendlichen, die inzwischen genauso säkularisiert wie deutsche sind. Deren Eltern wollen ihre Kinder nicht in einen Unterricht schicken, der in eine bestimmte Richtung geht. Ich nutze die Chance, dass die Jugendlichen sich in ganz unterschiedlichen Situationen befinden. Wenn sie sich darüber austauschen können, lernen sie. In zersplitterten Grüppchen fällt dieser Lerneffekt weg. Da wird dann alles vom Lehrer vorgegeben, und diese Rolle lehne ich mittlerweile ab. Meine Rolle kann eigentlich nur sein, dass ich für ihre Fragen offen bin und dass wir miteinander ins Gespräch kommen.

Interview: JULIA NAUMANN