Öffentlicher Personennahverkehr

UND IMMER SCHÖN LOCKER BLEIBEN

Früher schienen BVG und Revolution eins zu sein, wobei die tatsächliche Bereitschaft der Berliner Massen, einen Brechtschen „Eher brennt die BVG“-Chor anzustimmen und den elenden Kontrolleuren entschlossen gemeinsam entgegenzutreten, wahrscheinlich auch nicht größer war als heute. Die Berliner Verkehrsgesellschaft also: Fakten, Fakten und immer schön locker bleiben. 14.933 fröhliche BVGler bilden den größten ÖPNV-Betrieb Deutschlands. 1993 waren es noch 25.098. „Die Produktivität stieg während dieses Zeitraums um 70 Prozent“, so die Berliner Zeitung.

Während 1992 noch 1.102 Doppeldecker durch die Gegend fuhren, sind es heute nur noch 640! Einige von ihnen haben mehr als eine Million Kilometer zurückgelegt. In einem kann man auch heiraten. 1988 kostete ein normaler BVG-Fahrschein noch 2,30 Mark; mittlerweile sind es 3,90 Mark. Demnächst dann 4 Mark. Ähnliche Preissteigerungsraten gibt es sonst nicht einmal bei Zigaretten.

Lange stritt man sich um das Semesterticket für Studenten. Nun soll es 215 Mark kosten, allerdings obligatorisch sein. Schüler dagegen müssen sich das Jahresticket für 980 Mark nicht kaufen, zahlen dafür aber auch doppelt so viel wie die Studis, die mit 430 Mark übers Jahr kommen. In den Koalitionsverhandlungen hatte man sich noch auf die Einführung eines Arbeitslosentickets für 40 Mark geeinigt. Preissteigerungen seien mit ihm nicht zu machen, so Stadtentwicklungssenator Peter Strieder noch im Januar. Doch das Arbeitlosenticket wurde auf 45 Mark erhöht.

Die EU-Kommission will den öffentlichen Personennahverkehr dem Wettbewerb öffnen. Dagegen protestierte die ÖTV Mitte Februar in 100 deutschen Städten. Auch die Berliner Behörden werden den von Bülent Burma geplanten Buslinienverkehr nicht dulden. Herr Burma, der am Kottbusser Tor einen Autoverleih betreibt, wollte Achtsitzer durch die Gegend fahren lassen. 1,50 Mark sollte der Spaß pro Fahrt kosten. Was der Berliner nicht haben darf, billiges Fahrvergnügen, fordert die ÖTV dagegen für die Landesbediensteten: verbilligte Tickets.

Das Jahresdefizit der BVG beträgt 125 Millionen Mark. 100 Millionen seien der BVG im letzten Jahr durch Schwarzfahrer entgangen, so ein Sprecher. Sieben Prozent der User würden schwarzfahren. Die höchsten Schwarzfahrerquoten gibt es in Hohenschönhausen; die niedrigsten in Spandau. 33 BVG-Kontrolleure wurden Anfang 2000 gekündigt, weil sie zu Hause geblieben waren, statt zu kontrollieren. Helden unserer Zeit! 28 der Kündigungen wurden bestätigt. „Die U 8 ist eine Dealer-Linie“, sagen besorgte Eltern Kreuzberger Schüler. Die Polizei hat den U-Bahnhof Schönleinstraße als „gefährlichen Ort“ eingestuft und machte dort allein im Februar 18 Razzien. Um Schwarzfahrer, Obdachlose und anderes Gesindel auszusperren, denn „wenn man weiß, dass Schwarzfahrer ausgesperrt werden, erhöht dies das subjektive Gefühl der Sicherheit“ (Peter Strieder). Außerdem plant man die Einführung von Drehkreuzen wie in Paris. Die U 8 soll dabei den „Vorreiter“ machen. Das würde für alle 169 Bahnhöfe 100 Millionen kosten. „Bisher war man“, so die Berliner Zeitung, „von 300 Millionen ausgegangen.“ Auch von 200 Millionen war mal die Rede. Die Schwarzfahrerquote liegt in Paris übrigens um ein Prozent niedriger als in Berlin.

Auch sonst zeigt sich die BVG innovativ. Seit 1997 plant man die Einführung eines U-Bahn-Fernsehens, das demnächst mit einem Werbeanteil von 30 Prozent auf Sendung gehen soll. Und umgekehrt: Busse und Bahnen sollen mit Videoüberwachung ausgerüstet werden. Zwischen November 99 und April 2000 testeten 26.000 BVG-Kunden elektronische Fahrscheine. Nachteil: Nicht nur beim Ein-, sondern auch beim Aussteigen musste man die Chipkarten an Automaten vorbeiziehen. Vorteil: Mit den nicht aufgeladenen Tickets konnte man gefahrlos schwarzfahren: die BVG verfügte lediglich über zehn Fahrscheinlesegeräte, die zudem nicht einsatzfähig waren.

Der zufällige Schwarzfahrer heult sich gerne in Kolumnen auf den Berlin-Seiten der FAZ aus und erzählt immer wieder die Urban Tale vom kaputten Automaten und ist sehr empört darüber, dass auch er das „erhöhte Beförderungsgeld“ zu zahlen hat, das er dann mit der Kolumne wieder reinholt.

Am besten ist der ÖPNV im Ostblock, wo man in überfüllten Bussen seinem Nebenmann das Geld für die Fahrkarte in die Hand drückt, und der gibt es dann über diverse Stationen weiter bis zur Fahrscheinmaschine. Über mehrere Hände kommt der Fahrschein dann zurück. Auch das Mitmenschliche wird im Osten besser gepflegt: Eine Freundin berichtete, dass es in der Moskauer Metro üblich sei, seinen Kopf an die Schulter von Mitreisenden zu legen. Anfangs sei das etwas irritierend gewesen; später sehr schön.

Vor den Berliner U-Bahnhöfen stehen sympathische Gestalten, die freundlich grüßen. Man gibt ihnen Geld, dass man der BVG mit Freude am Prinzip vorenthält, denn „der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend“ (Brecht).

DETLEF KUHLBRODT