Die letzte Avantgarde

Eine vom Hamburger Kunsthistoriker Roberto Ohrt herausgegebene Anthologie untersucht die Wirkung der Situationisten  ■ Von Roger Behrens

Ohne geahnt haben zu können, welche bahnbrechenden Veränderungen sich durch Erfindungen wie Fotografie, Film, Radio, Schallplatte und Rotationsdruck für die bürgerliche Kunst ergeben, formulierte Hegel in seiner Ästhetik die These eines möglichen Endes der Kunst. Gemeint war: Wenn es um die Selbstbewusstwerdung des Menschen geht, dann bietet die romantische Kunst der Subjektivität nur noch den Rückzug in die Innerlichkeit; ihre klassische Funktion einer sozialen Instanz wird nunmehr von der Philosophie abgelöst.

Doch der bürgerliche Kulturbetrieb ließ sich davon nicht beirren: Gerade das romantische Kunstwerk etablierte das Ideal für die darauf folgende Massenkultur; die Innerlichkeit wurde zum Leitbild des modernen Stadtmenschen. Gleichwohl war fortan die Kunst selbst beschädigt. Tatsächlich gab die Kunst ihre alte Funktion preis, um selbst Funktion der Kultur-industrie zu werden.

Die Kunst der Moderne operierte von jeher im Schatten der historischen Erfahrung ihres möglichen Endes; als künstlerische Avantgarden versuchten Dadaismus und Surrealismus dieser Erfahrung auch einen politischen Ausdruck zu geben: Ihr Konzept hieß Provokation und Irritation des Gewohnten, das die Kunst zur Reklame mache. Doch diese Revolte der Kunst blieb eine künstliche Revolte – gegen die Gewalt des 20. Jahrhunderts kam sie nicht an. Erst die Ende der fünfziger Jahre gegründete Künstler- und Intellektuellengruppe der „Situationisten“ wagte die Konsequenz, Provokation und Irritation gegen den Kunstbetrieb selbst zu wenden, die Kunst zu zerstören, indem sie in der politischen Praxis aufgehoben wird: Die Situationis-ten wollten keine politische Kunst für die Linke, sondern die Kunst zur Praxis der Linken übersetzen. Das führte unweigerlich nicht nur zum Bruch mit dem Kunstbetrieb, sondern auch zu Auseinandersetzungen mit linken Parteien und Gewerkschaften.

Den Situationisten fehlte damit der Zugang zur herrschenden Geschichte, selbst in der Erzählung des Widerstands tauchen sie bis Ende der 80er Jahre kaum auf. Vieles ist der umfangreichen Arbeit des Hamburger Kunsthistorikers Roberto Ohrts zu verdanken, der mit Phantom Avantgarde das Thema für die radikale Linke interessant gemacht hat. Dass zu der Zeit – Stichwort „Wohlfahrtsausschuss“ – gerade die Popkultur als Subversionsnische diskutiert wurde, kam für eine Aktualisierung dieser letzten Avantgarde gerade recht. Mit Das große Spiel erscheint nun eine Aufsatzsammlung, mit der die Debatte um die Situationisten einen politisch wichtigen Schritt weiter kommt: Die situationistische Idee drohte in der Rezeptionseuphorie der letzten Jahre bereits zu erstarren, zurückzufallen auf die vergangenen Ideale der musealen Kunst. Zudem braucht die Beschäftigung mit der Situationistischen Internationale keinen Personenkult.

Das große Spiel steuert dem entgegen: Odile Passot untersucht die Rolle der wenigen Frauen in der situationistischen Bewegung; Gilles Dauvés entwickelt eine „Kritik der Situationistischen Internationale“; Stephen Hastings-King überprüft damalige Kontroversen mit dem Marxismus in Frankreich; Timothy J. Clark und Donald Nicholson-Smith verteidigen die Aktualität dieser radikalen Bewegung und resümieren engagiert: „Früher oder später wird die Geschichte der S.I. der Konstruktion eines neuen Widerstandsprojektes dienen.“ Das große Spiel ist keine Einführung, sondern dokumentiert einen Diskussionsprozess, der die Frage vergegenwärtigt, wie mit dem Ende der Kunst ernst gemacht werden kann. Wenn in der letzten Zeit im Rahmen der Aktionen zur Freilassung der politischen Gefangenen in der BRD auch Debords Filme gezeigt werden, dann bahnt sich hier ein möglicher Weg an. Dieses Buch jedenfalls vermag nur eine, wenn auch unbedingt notwendige theoretische Debatte zuzuspitzen. Über deren Stand informiert Ohrt mit seiner „Bibliographie zu den Situationisten 1990 – 1999“ und in seinem Einführungsbeitrag, der deklariert: „Die Kunst war abgeschafft.“ Und das ist natürlich im Sinne von Marx gemeint: Man kann die Kunst nicht abschaffen, ohne sie zu verwirklichen.

 Roberto Ohrt (Hg.), Das große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst, Edition Nautilus, Hamburg 2000, 222 S., 34 Mark