2001 Anschläge
: Bremsen als notwendiges Prinzip

■ Der Kulturchef des Weser-Kurier, Arnulf Marzluf, hat die Kultur als Trivialmaschine abgekanzelt, von der keine wichtigen Impulse für die Gesellschaft ausgingen. „Das ist ein Todesurteil“, kontert die Politikerin und Ex-Kultursenatorin Helga Trüpel

Da staunten einige Bremer KulturproduzentInnen bei der Lektüre des Weser Kurier beziehungsweise der Bremer Nachrichten (alias WK/BN) kurz vor Ostern Bauklötze: Auf der Seite, über der früher das Wort „Feuilleton“ stand und heute „Kultur“ steht, schwang sich der Ressortleiter Kultur, Arnulf Marzluf, zu einer Generalabrechnung mit seinem Fachgebiet auf. Trotz der bescheidenen Textbezeichnung „Zwischenruf“ warf er der nicht näher definierten Kultur vor, ein Spiel mit der Wiederholung von Vergangenheiten zu spielen: „Man muss schon sehr gutwillig sein, um zu glauben, dass aus den Zirkeln der Kultur-Kultur, die sich derzeit so wichtig nimmt, in absehbarer Zeit wichtige Impulse für die Gesellschaft ausgingen.“ Und, so Marzluf weiter: „Da es ohnehin nichts Neues zu befürchten gibt, ist die Kultur so berechenbar geworden wie noch nie.“ Kultur sei ein leer laufendes Instrument der Bestätigung ihrer selbst und deshalb eine Trivialmaschine geworden. Aus diesem Grund falle es Weinhändlern und Futtermittelkonzenen leicht, sich zu ihr zu bekennen und Sparbürokraten zu zeigen, wer das Abendland rette.

Das ist schon ein starker Tobak. Deshalb wurde innerhalb der „Trivialmaschine“ auch über den Text diskutiert. Die Reaktionen reichten von „interessante Thesen“ bis zu „Unverschämtheit“. Auch die kulturpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, die ehemalige Kultursenatorin Helga Trüpel, hat reagiert. Sie wollte auf Marzluf an gleicher Stelle, also auf der „Trivialmaschinen“-Seite von WK/BN antworten. Doch Marzluf hat sie nach ihren Angaben an die Leserbrief-Redaktion verwiesen. Deshalb kam sie zu uns. Lesen Sie in der taz also heute Helga Trüpels Entgegnung. (ck)

Die Debatte über staatliche Kulturfinanzierung in Deutschland, im Bund und in den Ländern, geht in eine neue Runde. Es geht inzwischen nicht mehr nur um die Höhe der Kulturfinanzierung, sondern mittlerweile wird die fundamentale Frage gestellt, wozu überhaupt noch Kultur, wodurch legitimieren sich Kunst und Kultur für die gesamte Gesellschaft, was ist heute überhaupt noch Kultur?

Und mit diesen Fragen wird in einigen Stellungnahmen eine bestimmte Antwort gleich mitgeliefert, nämlich, dass es sich um einen gesellschaftlichen Bereich handelt, der sich selbst genügt, der eloquent nur seine eigenen Vorteile und staatliche Alimentierungen verteidigt, der rückwärtsgewandt sich den neuen Entwicklungen verweigert und bei den Beschleunigungsschüben, die die moderne Gesellschaft auszeichnen, nur als Bremser agiert. Das kommt einem Todesurteil gleich: Packt die Kultur auf den Müllhaufen der Geschichte. Das ist die ungeschminkte Botschaft, die sich hinter solchen Überlegungen ausdrückt. Und diese Botschaft ist gefährlich.

Es ist nicht prinzipiell falsch, Fragen nach der optimalen internen Organisation von Kultureinrichtungen und nach sparsamem Umgang mit Ressourcen zu stellen. Es gibt nicht einfach eine Lizenz zur Verschwendung, und gewachsene Kultureinrichtungen werden zu Recht nach ihrer Funktion befragt. Wer staatliche Ausgaben für Kunst und Kultur befürwortet, muss argumentieren können, warum Kunst und Kultur für die Gesamtgesellschaft notwendig sind.

Im Zusammenhang mit den leeren öffentlichen Kassen und der Verschuldung der Staatshaushalte wird zu Recht darauf gedrängt, Betriebsabläufe auch in Kultureinrichtungen zu optimieren, aber wenn die betriebswirtschaftliche Logik zur einzig relevanten wird, besteht die Gefahr, dass alle die Kunstproduktionen, die nicht gleich einem großen Publikum zugänglich sind, als nicht mehr förderungswürdig aussortiert werden. Dann regiert auch hier nur noch das quantitative Gesetz, das sich nur an Kategorien wie Besucherzahlen und Einschaltquoten bemisst. Kunst zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie anders als die Ökonomie und die Kultur- und Popindustrie nicht allein einen quantitativen Maßstab hat, sondern sich an Qualität misst. Kunst und Kultur haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, hier gilt Zweckfreiheit und nicht kurzfristiger ökonomischer Nutzen, hier gilt langfristige Wirkung und nicht schneller, verwertbarer Effekt. Hier gilt Nachdenken und Innehalten, Reflexion um der Reflexion willen und nicht schneller Output.

Natürlich ist es richtig, dass es sich bei den Trägern von Kunst und Kultur eher um eine privilegierte gesellschaftliche Gruppe handelt, zugleich hat sie eine Funktion für die gesamte Gesellschaft. Nur durch die Reibung von Qualität an Quantität, von Möglichkeitssinn an Realität, von Reflexion an direkter Verwertbarkeit kommt eine Dynamik in die Gesellschaft, die noch Entscheidungen und auch Werturteile zwischen verschiedenen Prinzipien ermöglicht und die Welt nicht eindimensional macht, nur noch das Herrschen einer einzelnen Logik kennt, der reinen Nützlichkeit und Schnelligkeit. Eine solche Entscheidung, ein solches Abwägen ist notwendig für die Offenheit und Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft. Ohne diese Reibung wäre die Gesellschaft als Ganzes ärmer.

Die Beschleunigung, der sich die Kultur angeblich als problematischer Bremser widersetzt, ist kein Selbstzweck. Die Beschleunigung ist nicht um ihrer selbst willen ein Wert, sondern man muss die Frage beantworten, welche Entwicklung beschleunigt wird und ob diese Entwicklung wünschenswert ist. Die Apologeten der Beschleunigung weichen dieser Frage aus.

Vergegenwärtigen wir uns diese Grundsatzfrage an der aktuellen Auseinandersetzung um den Umgang mit den neuen Möglichkeiten der Gentechnik. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch eine private Firma steht offensichtlich kurz bevor. Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden nicht mehr in einem wissenschaftlichen Organ publiziert und damit der Forschergemeinde zur Verfügung gestellt, sondern die Firma geht mit ihren Ergebnissen an die Börse und will sich dort einzelne Gene patentieren lassen, um daraus den größtmöglichen ökonomischen Vorteil zu ziehen.

Der amerikanische Wissenschaftler Jeremy Rifkin stellt zu Recht die Frage, ob die Beschleunigung dieses Prozesses, nämlich nur noch auf die utilitaristische, die am reinen Nutzen orientierte Anwendung von Genen zu setzen wünschenswert ist oder nicht ungeheuer gefährlich, weil sie die Grundkoordinaten unserer Gesellschaft verschiebt. So würde mit dem verwertbaren Wissen um die menschlichen Gene ein Embryo künstlich herstellbar und dieser Organismus wäre das Eigentum desjenigen, der das Patent besitzt. Eine neue Form der Sklaverei würde eintreten. Diese Frage war aber schon einmal in schmerzhaften gesellschaftlichen Prozessen politisch kulturell entschieden: gegen die Sklaverei. Die Frage, wie man mit den Möglichkeiten der neuen Technik umgeht, ist für Rifkin eine grundsätzliche Frage unserer Kultur, die nur auf der Grundlage von kulturell verankerten Werten entschieden werden kann.

Die Argumentation von Rifkin angesichts der neuen ethischen Herausforderung der Erforschung des menschlichen Genoms zeigt mir, dass wir die Reibung zwischen den Werten und Maßstäben des kulturellen Diskurses und dem ökonomischen Nutzen unabdingbar brauchen, um uns in den Beschleunigungsschüben zu orientieren und diesen nicht nur ausgeliefert zu sein. Die Alternative ist nämlich nicht rückwärtsgewandte Kultur einerseits und technische Beschleunigung andererseits, sondern die Aufgabe besteht darin, in dem Spannungsverhältnis von kulturellen Werten und technischen Neuerungen Antworten zu finden, die begründete Entscheidungen auf die Frage erlauben, wie wir leben wollen. Das sind die großen kulturellen Fragen, die überhaupt erst politische Freiheit ermöglichen und uns nicht dazu verurteilen, dem Imperativ einer Beschleunigung als Selbstzweck ausgeliefert zu sein.

Es gibt mehr Logiken als die betriebswirtschaftliche und die der technologischen Revolution, der kulturelle Diskurs hat eigene Prinzipien. Diese Auseinandersetzung, diese Reibung zwischen den verschiedenen Prinzipien ist unerlässlich. Dazu brauchen wir Kultur. Helga Trüpel