zoologie der sportlerarten
: PROF. HOLGER HIRSCH-WURZ über den Schachspieler

ZETERBOLDE UND HADERLUMPEN

Der Homo rochadicus ist in erster Linie ein Psychopath, dem eine geballte Portion Aggressivität innewohnt. Wäre der Homo rochadicus nicht Schachspieler, dann wäre er Serienmörder oder mindestens Serienschreiber fürs Fernsehen. Um der Menschheit diesen Übelstand zu ersparen, entwickelten kluge Köpfe vor einigen tausend Jahren in Asien erst den Buddhismus, und als das nichts half, das Schachspiel. Sie nannten es sinnigerweise das königliche Spiel, weil das Aufkommen aggressiver Psychopathen naturgemäß in Herrscherhäusern am ausgeprägtesten war.

Der Trick mit den gemetzelten Bauern, geschleiften Türmen, gestürzten Königen und flachgelegten Damen auf den 64 Feldern funktionierte prächtig, zumindest bis die Hunnen kamen, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Fakt ist, dass die Geschichtsbücher ein gutes Stück dünner wären, wenn Leute wie Julius Cäsar oder Napoleon mehr Schach gespielt hätten. Und wer weiß, wo Russland heute stünde, wenn Garri Kasparow kein Schach spielen würde.

Je versierter der Homo rochadicus seine Figuren zu setzen vermag, desto merkwürdiger benimmt er sich. Er lässt sich lange Bärte wachsen (Hübner, Steinitz, Fischer), wäscht sich nie die Haare (Karpow), beschuldigt seine Gegner okkulter Umtriebe (Kortschnoi), leidet unter Verfolgungswahn (Fischer, Kasparow) und beschließt seinen Lebensabend gern in geschlossenen Anstalten (fast alle). Der eine kann das Telefonbuch von Moskau auswendig (Karpow), der andere kann sich nicht mal merken, wer Weltmeister ist (Kasparow). Allen gemein ist ein ausgeprägter Hang zum Zetern und Hadern, so als gelte es, das Sozialverhalten, das auf dem Brett gang und gäbe ist, möglichst naturgetreu ins richtige Leben zu übertragen.

Der größte Feind des Homo rochadicus ist jedoch nicht der andere Homo rochadicus, sondern der Computer. Der entlarvt nämlich, dass der Schachspieler gar nicht nachdenkt, sondern bloß ein gutes Gedächtnis hat und sich im richtigen Moment daran erinnert, dass Wassili Kwatschnik am 23. Mai 1907 in St. Petersburg gegen Oswalt Humbuck in derselben Stellung den Königsbauern von e5 nach e6 gezogen hat und damit bestens gefahren ist. Der Computer schüttet solche Informationen nur so aus dem Chip und kann sich zudem mehr Telefonbücher merken als Karpow und die ganze Großmeister-Bande zusammen. Das kratzt natürlich am Mythos des Schachspielers, der gern als Grübler und scharfer Geist gelten möchte und nicht als eine Art humanoide Androidenkopie minderer Qualität.

Deshalb zermartert er sich die Gehirnzellen, bis er den albernen Blechkasten endlich matt gesetzt hat, und wenn das nicht klappt, behauptet er einfach, dass ihm die fiesen Programmierer nur seine besten Winkelzüge geklaut und diese dem elektronischen Schlingel eingeimpft hätten. Somit habe er sich quasi selbst besiegt und sei daher eigentlich Doppelweltmeister.

Der größte Kummer des Homo rochadicus ist, dass ihm keiner zusehen möchte, nicht einmal im Fernsehen. Er kann partout nicht begreifen, was die Menschen davon abhält, sich acht Stunden lang in einen Sessel zu pflanzen und ihn dabei zu betrachten, wie er in der Nase bohrt, sich am Ohrläppchen zupft, dreckig grinst und ab und zu einer unschuldigen Uhr auf die Bonje haut, nachdem er in beiläufiger Manier irgendeine Figur zwei Felder weiter platziert hat. Was kann es Spannenderes gegeben, denkt er gern, als in mehrfacher Superzeitlupe diesen eleganten Fingerschwung zu begutachten, mit dem er den gegnerischen Springer vom Brett gezupft hat, oder jenen hoheitsvoll-vernichtenden Blick, der den Kontrahenten tief ins Polster seines Sessels nagelt, und danach den aufgebotenen zwanzig Großmeistern zu lauschen, die erläutern, warum alles andere besser gewesen wäre als dieser Zug und dass ja schon am 23. Mai 1907 in St. Petersburg Wassili Kwatschnik ...

In einem Stadion müsste er eigentlich spielen, vor 80.000 jubelnden Menschen, die begeistert seinen Namen skandieren: „Garri, Garri, Garri“, die Welt sollte ihm zu Füßen liegen, und wenn er daran denkt, dass es immer noch Leute gibt, die an seiner Göttlichkeit zweifeln und ihm nicht das geben wollen, was ihm zusteht, dann sieht er rot und dann könnte er hingehen und eine Axt nehmen und ... – Moment, wer war doch gleich am Zug?

Autorenhinweis:Holger Hirsch-Wurz, 73, ist ordentlicher Professor für Human-Zoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen.