Verrat an Europa

Die rot-grüne Koalition verärgert Polen. Die meisten deutschen Minister bleiben dem gemeinsamen Regierungstreffen fern und ignorieren die bilateralen Perspektiven
von GABRIELE LESSER

Für die polnische Regierung war es ein Schlag ins Gesicht: Fünf von sieben deutschen Ministern sagten ab. Die Toskana oder andere „wichtige Verpflichtungen“ lockten mehr als die Regierungskonsultationen zur Millenniumsfeier in Gnesen. Dass die Polen in Gniezno eine neue Ära in den deutsch-polnischen Beziehungen begründen wollten, dass sie an den genau 1.000 Jahre zurückliegenden Freundschaftsbund zwischen Otto III. und Boleslaw dem Tapferen anknüpfen wollten, wen interessierte das in Berlin? Vor tausend Jahren war der deutsche Kaiser mit großem Gefolge nach Gnesen, in die polnische Hauptstadt, gekommen, die beiden Herrscher hatten nach damals üblichem Brauch Reliquien ausgetauscht und eine große Vision entwickelt: Polen und Deutschland würden Seite an Seite für die Wiederentstehung des Heiligen Römischen Reiches kämpfen. Durch den „Bruderbund“ wurde Polens Souveränität erstmals anerkannt und der gerade mal 34 Jahre junge Staat in die europäische Völkerfamilie aufgenommen. Es war die erste Osterweiterung Europas.

1.000 Jahre später sollte sich die Geschichte wiederholen: Wieder steht Polen vor den Toren Europas, wieder laden die Staatslenker Polens den mächtigen Nachbarn ein. Gnesen, die alte Hauptstadt Polens, ist herausgeputzt und wartet auf die Wiederholung des historischen Aktes. Doch der Nachbar ignoriert die politische Symbolik. Zwar haben vor einem Monat die beiden Staatspräsidenten Johannes Rau und Aleksander Kwasniewski den Grundstein zu einem Europäischen Kolleg in Gnesen gelegt, aber ihre Erklärung dazu war enttäuschend banal: Man wolle sich gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzen. Das ist lobenswert, aber keine Vision für das dritte Jahrtausend. Was verbindet denn Deutschland und Polen im Jahre 2000 noch? Wo sind die Zukunftsthemen? Gibt es noch ein gemeinsames politisches Ziel?

Vor ein paar Jahren noch hatten Kohl und Mitterrand mit dem Weimarer Dreieck ein Signal gesetzt: Die europäische Lokomotive „Bonn-Paris“ nahm Warschau als den künftigen EU-Partner in Osteuropa an Bord. Die politische Vision eines in der Union vereinten Ost- und Westeuropas mobilisierte alle Kräfte. Doch als Schröder die Regierung übernahm, stieg er aus dem fahrenden Zug aus, und Frankreich macht nun eine eigene und kaum mit Deutschland abgestimmte Europapolitik. Polen ist im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke geblieben – zumal im deutsch-polnischen Verhältnis alle schwierigen Fragen gelöst scheinen. Oder wie ein hoher Diplomat in Warschau das neue deutsche Schweigen kommentierte: „Die Zwangsarbeiter sind erledigt, jetzt haben wir uns nichts mehr zu sagen.“

Zehn Jahre nachdem Polen seine Souveränität wiedererlangt hat, will es endlich gemeinsam mit den westeuropäischen Staaten Politik machen – als Partner, nicht als Almosenempfänger oder Klotz-am-Bein-Staat der Westeuropäer. Allerdings steckt das Land in einer prekären Situation: als Anwärter auf den EU-Beitritt wird Polen permanent bewertet. Brüssel und Straßburg geben Noten ebenso wie Paris oder Berlin, Madrid oder Wien. Zwar hat sich das Schüler-Lehrer-Verhältnis etwas entkrampft durch die Selbstverpflichtung der EU in Helsinki, bis zum Jahre 2002 aufnahmebereit für die neuen Kandidaten zu sein, doch anders als die EU-Staaten haben die Kandidaten keinerlei Druckmittel in der Hand. Kommt die Regierungskonferenz mit den institutionellen Reformen der EU nicht zurande, verzögert sich der Aufnahmeprozess, und die Kandidaten haben Pech gehabt.

Bis 1998 hatte Kanzler Kohl in historischer Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg die Rolle des „Anwalts Polens“ bei Nato und EU übernommen, und Polen nahm diese Unterstützung nach anfänglichem Zögern an. Heute jedoch steht das Land sprachlos vor der neuen „Realpolitik“ Gerhard Schröders, der Kohls Erbe nicht antreten will.

Das Desinteresse der rot-grünen Koalition am Nachbarstaat Polen gründet vor allem in Ignoranz. Nur: Mit dieser Haltung lässt sich keine Politik machen. Polen wird in wenigen Jahren ein ernst zu nehmendes Machtzentrum innerhalb der EU sein. Die Aufholjagd hat längst begonnen: die Reformflut versetzt das Land zwar immer wieder kurzfristig ins Chaos, aber die polnische Wirtschaft wächst unaufhaltsam. Schon heute wirbt Deutschland in Polen Computerexperten ab. Der polnische Markt ist, so erstaunlich das klingen mag, größer als der russische. Und hier liegt die Zukunft: Statt mit einer Green Card Experten aus Asien zu holen und sie in eine völlig andere Sprach- und Kulturwelt zu verpflanzen, könnte Deutschland gleich vor der Haustür nachfragen. In Polen gibt es eine hervorragend ausgebildete Elite, die hungrig nach Erfolg das Land nach vorne treibt.

Am Ende werden es polnische Experten sein, die allen Stereotypen zum Trotz auch die deutsche Wirtschaft wieder auf Trab bringen. Nur die Politiker haben es noch nicht begriffen: Das Ziel muss die reformierte und erweitertete Europäische Union sein. Und der Weg dorthin führt über gute nachbarschaftliche Kontakte. Mit einer guten bilateralen Arbeitsmarktpolitik lassen sich EU-Probleme „vor Ort“ lösen oder zumindest einer gesamteuropäischen Lösung näher bringen. Das gilt genauso für den Bildungssektor, die Umwelt- und Verkehrspolitik. Es liegt im ureigensten Interesse Deutschlands, gute Kontakte zum immer stärker werdenden Nachbarn Polen zu pflegen. Durch Geringschätzung des Nachbarn, wie sie durch die Absage von gleich fünf deutschen Ministern zum Ausdruck kommt, wird die Zukunft aufs Spiel gesetzt: Es ist der Verrat an der Idee Europas.

Hinweise;Polen will Politik als Partner gestalten, nicht als AlmosenempfängerDas Ziel ist die reformierte und erweiterte Europäische Union