: Radeln zum Fast-Nulltarif
Rückkehr einer Legende: Vor gut 30 Jahren forderte die niederländische Provobewegung „Fahrräder statt Autos“. Nun sind ihre „Witfietsen“ wieder da
AMSTERDAM taz ■ „Autos aus der Stadt“ – das war ihr Motto. Zu Tausenden zogen junge Leute im Mai 1966 durch die Amsterdamer Innenstadt. Einige der Protestler aus der Provobewegung hatten weiß getünchte Fahrräder dabei. Die Witfietsen waren Symbol für ihre Forderung: Fahrräder statt Autos. Die Provos wollten Tausende weißer Fahrräder auf den Straßen der Stadt verteilen. Jeder sollte die Räder benutzen können und später irgendwo wieder abstellen. Stadtherren und Regierung machten den Provos einen Strich durch die Rechnung. Aus der autofreien Innenstadt wurde nichts. Aber die Witfietsen blieben in der Erinnerung.
Und heute sind sie wieder da. Selbst den jüngeren Amsterdamern sind die Witfietsen ein Begriff. „Als ich so ein Witfiets sah, dachte ich gleich an die Geschichte von der Provobewegung“, sagt die 24-jährige Fenna Snater. Allerdings haben die neuen Witfietsen mit den Originalen nicht viel mehr gemein, als dass sie auch weiß sind: Diese neuen weißen Räder sehen aus wie eine Kreuzung aus Mofa und Trimm-dich-Rad. Der Rahmen ist enorm breit, das Vorderrad kleiner als das Hinterrad, die Speichen sind hellblau, und die dicken Vollgummireifen sollen nie platt sein.
Doch außer der Farbe ist noch etwas gleich geblieben: Der Erfinder der Witfietsen ist heute wie damals derselbe: Luud Schimmelpennik. Er war einer der Provo-Anführer, die die Witfietsen zum Allgemeingut machen wollten. Nach dem Ende der Provobewegung tüftelte der heute 62-Jährige jahrelang an den neuen diebstahlsicheren Witfietsen für die Amsterdamer Innenstadt.
„Die Idee habe ich sozusagen gehegt und gepflegt“, sagt Schimmelpennik. Schließlich seien die Witfietsen ein Teil der niederländischen Geschichte geworden. Erste Versuche, die Räder als Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln einzusetzen, verliefen Anfang der 80er-Jahre im Sande – und Schimmelpennik bastelte weiter.
Der studierte Ingenieur erfand schließlich ein Leih-System, das die Stadt Amsterdam nach einem halben Jahr Testfahrten jetzt in die Wirklichkeit umsetzt – allerdings ohne den Anspruch, die Autos aus dem Zentrum zu verbannen. Schimmelpennik fängt ganz klein an: In vier Depots stehen je zehn weiße Räder. Aber noch im Laufe des April sollen es fünfmal so viele werden. Für eine halbe Stunde kann man ein Rad leihen und vom Startdepot zu einem der anderen Stellplätze radeln. „Gedacht sind die Räder vor allem für diejenigen, die mal nicht Bus oder Bahn fahren wollen. Oder für Leute, die beim Einkaufen nicht die ganze Zeit laufen wollen“, sagt Schimmelpennik.
Pendler, die am Bahnhof ankommen, nehmen sich ein Witfiets und treten auf dem Weg zum Arbeitsplatz in die Pedale. Das Nehmen ist allerdings nicht ganz einfach. Wer ein weißes Rad benutzen möchte, braucht dafür die Geldkarte der niederländischen Postbank, die einer der Sponsoren für das Projekt ist – aber immerhin jeder zweite Niederländer besitze die Karte, heißt es in der Stadtverwaltung. Die Karte schiebt man dann in einen Computer am Startdepot und gibt an, wohin man will. Dann löst sich das Schloss, und die Tour kann beginnen. Ein Zentralrechner verfolgt die Fahrt. Landet ein Witfiets nicht am angegebenen Zieldepot, spuckt der Computer Name und Adresse des Übeltäters aus.
„Es kommt uns darauf an zu wissen, wo die Fahrräder gerade sind“, erklärt Henk Korenhof vom Öffentlichen Nahverkehr der Stadt. Wenn ein Depot leer und ein anderes überfüllt ist, so dass die Versorgung der Strecken nicht mehr gewährleistet ist, teilen Schimmelpennik und seine Leute die Witfietsen neu auf. Dafür hat Schimmelpennik ein Liegefahrrad gebaut, an das man mehrere Witfietsen anhängen und durch die Stadt schleppen kann.
Schimmelpennik, der seinen Idealismus bewahrt hat, ist vom Erfolg der Witfietsen überzeugt. „Das ist modern. Das passt in diese Zeit.“ Bis zum Herbst könne man auf 500 weiße Räder kommen, schätzt er. Spätestens dann sollen auch ausländische Touristen auf den Witfietsen entlang der Grachten radeln können. Da die in der Regel keine niederländische Postbank-Karte besitzen dürften, hat Schimmelpennik schon Extra-Chipkarten anfertigen lassen. „Technisch ist die Sache rund“, meint er. Für ein paar Gulden soll es die Witfiets-Karten dann in Hotels und Touristikbüros geben.
ELISABETH ATZLER
Hinweis:Die Idee: Die Fahrräder sollten auf die Straßen Amsterdams verteilt werden, damit sie jeder benutzen und später irgendwo wieder abstellen konnte
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