Die schwächelnde Zivilgesellschaft stärken

Der Deutsch-Russische Austausch e. V. bietet Praktika in Russland an. Damit soll die Demokratisierung von unten gestärkt werden

Für Christian Kanig war es die Reise seines Lebens: Fünf Monate lang erlebte der 25-jährige Geschichtsstudent aus Bautzen Russland von innen und lernte Überlebende des Holocaust kennen. Er setzte bei dem 90-jährigen Herrn Koppelmann das Fliegengitter ein, klebte mit ihm Fotos von Majdanek und Auschwitz auf Schautafeln – für eine Ausstellung. Er half beim Ausfüllen von Entschädigungsanträgen, ging einem Professor beim Haushalt zur Hand, hörte zu, wenn eine Alte erzählte, wie SS-Leute schießend durchs Warschauer Getto marschierten. Und die ganze Zeit über wunderte er sich, dass ihn keiner wegen seiner Herkunft beschimpfte.

Eingefädelt wurde das Praktikum bei einer St. Petersburger Organisation ehemaliger KZ-Häftlinge von Mitarbeitern des Deutsch-Russischen Austauschs e. V. (DRA). Dieser Verein bemüht sich – 1.500 Kilometer von St. Petersburg entfernt – in einer Fabriketage in Mitte, die schwächelnde Zivilgesellschaft in Russland zu stärken. Der DRA vermittelt seit 1992 Freiwillige an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in die Russische Föderation.

Vor kurzem ist die Robert-Bosch-Stiftung eingestiegen. So konnte der Verein Ende September offiziell die erste „Deutsch-Russische Freiwilligenagentur“ eröffnen. Projektleiter Stephan Malerius, ein 31-jähriger Slawist, kann jetzt mehr und besser vorbereitete Praktikanten gen Osten schicken, um all die Bürger und Initiativen in der Ex-UdSSR zu unterstützen, die aufgebrochen sind, sich um ihre eigenen Angelegenheiten und die Notleidenden zu kümmern. Die erste Bilanz: 25 Freiwillige sind gerade dabei, mit einer Umweltorganisation in Irkutsk gegen die Verschmutzung des Baikalsees zu kämpfen. Sie verteilen mit den Wolgograder „Müttern gegen Drogen“ Spritzen an Junkies, machen Hausaufgaben mit misshandelten Kindern in den Räumen der Initiative „Kinder in Gefahr“ in St. Petersburg. Sie übersetzen Briefe für die Moskauer Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und geben in Perm behinderten Kindern Schwimmunterricht.

Um die Projektpartner besser auf den Besuch der Gäste vorzubereiten, tourte ein deutsch-russisches Trainerteam durchs Land. Gegenbesuche sind indes selten: 1999 waren gerade mal vier Freiwillige in der Bundesrepublik. Es fehlen die Geldgeber.

Der Deutsch-Russische Austausch ist ein spätes Kind der Gorbimanie der frühen 90er-Jahre. Unternehmen und Institutionen suchten damals in Erwartung eines baldigen wirtschaftlichen und politischen Take-off Osteuropas händeringend Experten mit landeskundlichem Wissen. Mehr Studierende denn je schrieben sich für Slawistik und Osteuopakunde ein. Nur fehlte es den Lernwilligen an praktischen Erfahrungen mit dem sich transformierenden Riesenreich. Und es fehlten Praktikumsplätze. Als Reaktion griffen ein paar Slawistikstudenten an der Berliner FU zur Selbsthilfe und riefen den Verein ins Leben.

Zusammen mit Vertretern von „Memorial“ gründeten sie 1992 ein erstes NGO-Beratungsbüro in St. Petersburg, danach weitere in Moskau, Nowosibirsk, Wolgograd und Perm. Acht Jahre später ist die Go-East-Euphorie verflogen. Nicht zuletzt der Krieg in Tschetschenien und der Präsidentschaftswahlkampf führten vor Augen, wie weit die russische Gesellschaft von friedlichen Konfliktlösungen entfernt ist.

Unverdrossen organisieren die 12 festen DRA-Mitarbeiter in Berlin neben der Freiwilligenagentur eine Reihe von Projekten, um den Akteuren der Bürgergesellschaft den Rücken zu stärken: So laden sie unter anderem Journalisten in deutsche Redaktionen ein und bringen den Dialog russischer Stadtvertreter mit deutschen Kollegen in Gang. Geschäftsführerin Stefanie Schiffer sieht in der Unterstützung der über 60.000 NGOs dennoch eine Chance, angesichts des zerfallenden ökonomischen und staatlichen Systems etwas zu bewirken: Die Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen milderten nicht nur die Not der Menschen, um die sich kein Sozialstaat kümmert. Die Praktika trieben das eigentlich Wichtige voran: „die Demokratisierung von unten“. Schiffer hält die Begegnungen zwischen Bürgern gerade jetzt, angesichts der abgekühlten zwischenstaatlichen Beziehungen, für wichtig. Als Anerkennung für „seine Vermittlungsarbeit“ wurde dem Verein 1998 die „Theodor-Heuss-Medaille“ verliehen.

An Praktikanten herrscht kein Mangel: Das Telefon des Projektleiters klingelt mehrmals am Tag. Neugierige erkundigen sich, ob ein Praktikum mit Behinderten möglich ist oder eins mit Straßenkindern oder Alten. Die Agentur berücksichtigt die Wünsche der Engagierten, so gut es geht, nur Russisch müssen sie sprechen und Interesse an der Arbeit im „dritten Sektor“ mitbringen. Auch sollte der Einsatz im Osten mindestens drei Monate dauern. Und natürlich gibt es kein Gehalt, nur ein paar Mark Taschengeld, einen Reisekostenzuschuss und – jede Menge neue Erfahrungen.

Nach drei Monaten als Praktikantin beim DRA und bei amnesty international in Berlin ist für die 24-jährige Maria Sanikowa aus Perm klar, dass sie künftig mit den deutschen Praktikanten bei ihrer NGO zu Hause anders umgehen wird: Sie wird entgegen dem landesüblichen Führungsstil mit ihnen „alles besprechen“ und ihnen mehr Verantwortung übertragen. Kurz: Sie wird versuchen, Entscheidungsprozesse demokratischer zu gestalten. Ein guter Anfang.

ERIC BREITINGER

Deutsch-Russischer Austausch e. V. Brunnenstraße 181, 10119 Berlin, Telefon (0 30) 44 66 80-0;