Gegen Tschernobyl und gegen Lukaschenko

Weißrusslands Opposition demonstriert, während der Staatspräsident das Ausmaß der Atomkatastrophe verschweigt

BERLIN taz ■ Weißrusslands Opposition lässt sich auch durch Prügel, Verhaftungen und Geldstrafen nicht abschrecken: Wie angekündigt, protestierten am Mittwoch anlässlich des 14. Jahrestages der Atomkatastrophe in Tschernobyl mehrere zehntausend Menschen in Minsk gegen den autoritären Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko und für einen Dialog mit der Regierung.

Die überwiegend jungen Demonstranten, viele in Schwarz gekleidet und mit bemalten Gesichtern, zogen mit weißrussischen Flaggen und Ikonen durch die Straßen. „Tschernobyl und eine Diktatur sind Weißrusslands Elend“, sagte Nikolai Statkevitsch, Chef der oppositionellen sozialdemokratischen Partei. Für weißrussische Verhältnisse verlief der Marsch friedlich. So wurden nur einige Teilnehmer vorübergehend verhaftet.

Offensichtlich war die Staatsmacht dieses Mal darum bemüht, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Noch in der vergangenen Woche hatten die Behörden in Minsk die Kundgebung untersagt, dann aber die Aktion in einem Außenbezirk der Hauptstadt zugelassen. Kurz zuvor war der weißrussische Innenminister Juri Sivakau gefeuert worden. Offiziell wurden dafür gesundheitliche Gründe angegeben. Klar jedoch ist, dass Sivakau das Bauernopfer Lukaschenkos für die gewaltsamen Auseinandersetzungen bei der Demonstration vom 25. März ist. Bei der Kundgebung waren unter anderem auch mehrere Journalisten und Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von Sicherheitskräften der Miliz zusammengeschlagen und vorübergehend verhaftet worden.

Ungeachtet des sparsamen Schlagstockeinsatzes am vergangenen Mittwoch lief Staatschef Lukaschenko mal wieder zu Höchstform auf. Die Opposition werde vom Westen bezahlt und benutze Tschernobyl für ihre politischen Ziele, sagte er anlässlich des Besuches eines von Radioaktivität verseuchten Dorfes. Und: „Der Tschernobylmarsch wird auf die Parole ‚Weißrussland in Europa ohne Luka‘ reduziert. Nach einem gutem Happen und einem richtigen Getränk werden die Demonstranten heute herumschwafeln. Und das alles mit finanzieller Hilfe aus dem Westen – für dieses Geld werden sie marschieren.“

Was der Präsident den verstrahlten Dorfbewohnern vorenthielt, war den Abgeordneten des handverlesenen Parlaments Tags zuvor präsentiert worden. Laut Aussage von Iwan Kenik, Präsident des weißrussischen Komitees zur Beseitigung der Folgen von Tschernobyl, seien 23 Prozent des weißrussischen Territoriums mit rund zwei Millionen Einwohnern kontaminiert. Der Gesundheitszustand der betroffenen Menschen verschlechtere sich dramatisch. So sei bislang bei 1.100 Personen Schilddrüsenkrebs diagnostiziert worden. Demgegenüber wolle die Regierung die finanziellen Zuwendungen von umgerechnet 10 Millionen Dollar 1996 auf 24.000 Dollar in diesem Jahr zurückfahren. Juri Schewtsow, Herausgeber des Tschernobyl Journals, fiel dazu nur ein Satz ein: „Die Politik der Regierung ist kriminell.“

BARBARA OERTEL