Mehr Experimente wagen

■ Vera Kissel ist sehr gespannt. Am 10. Mai wird nämlich das dritte Stück der Bremer Autorin uraufgeführt. Worum es dabei geht, verriet sie im Gespräch mit der taz

Mit „mondkind“ gelangt am 10. Mai das dritte Stück der in Bremen lebenden Autorin Vera Kissel, Jahrgang 1959, zur Uraufführung. In „mondkind“ wird ein quasifamiliärer Mikrokosmos anhand zweier Handlungsstränge entlanggeführt. Da ist die Geschichte des behinderten jungen Mannes Anton und die der sterbenden alten Frau Rosa. Im Gespräch mit der taz ruft die Autorin die RegisseurInnen ihrer Stücke dazu auf, mehr Experimente in den Inszenierungen zu wagen.

taz: Frau Kissel, mit „mondkind“ kehren Sie gewissermaßen nach Bremen zurück. Ist das ein besonderer Erfolg?

Vera Kissel: Es ist schön, in der Stadt, in der ich lebe, als Autorin wahrgenommen zu werden, zumal das lange Zeit nicht so war.

Haben Sie Probleme, den Text aus den Händen zu geben?

Überhaupt nicht. Ich schreibe die Texte ja dafür, dass genau das passiert, und dieser Vorgang erschreckt mich überhaupt nicht, er macht mir Spaß. Ein Theatertext ist für mich das Fundament eines Theaterabends. Fundamente sind wichtig, aber nicht das Gebäude selbst.

Es gab in den letzten Jahren Kritik aus der Nachwuchsriege. Neue Stücke bekämen keine Chance, weil die Texte sofort zerschreddert würden. Sehen Sie das auch so?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Theater bei neuen Stücken sehr nah an den Texten bleibt. Die Dekonstruktion von Klassikern im Regietheater scheint bei neuen Stücken nicht so üblich. Ich erkläre mir diese Ängstlichkeit daraus, dass viele Autoren keine Erfahrung mit Theater haben.

Haben Sie Theatererfahrung, mal am Theater gearbeitet oder so?

Ich bin im Theatralischen aufgewachsen. Meine Familie mütterlicherseits hatte ein Theater in Berlin. Mein Vater war Regisseur. In der Werkstatt war ich immer dabei. Irgendwann fängt man selbst auch an. Mir ist das selbstverständlich, bei den Proben dabeizusein. Das ist etwas, das in Deutschland nicht so üblich ist.

Die bisherigen Inszenierungen Ihrer Texte hätten also mutiger sein dürfen?

Formal mutiger, ja. Es geht darum, in der Inszenierung eine eigene Geschichte zu erzählen, die Spielräume des Textes auszuloten. Meine sind formal sehr streng. Die beiden Inszenierungen waren sehr realistisch. Sie hätten mehr experimentieren können.

Die Sprache scheint Ihnen ungemein wichtig.

Im Rhythmus, in der Musikalität liegt auch der Gestus. Das eine ist näher am alltäglichen Sprechen, anderes lyrischer. Ich versuche durch den anderen Sound eine „andere Realität“ der Figuren formal sichtbar zu machen. Die Form muss für mich unterschiedliche Zustände, Konflikte und so weiter deutlich machen. Es geht darum, was an Haltung drunterliegt. Die Leute reden banales Zeug und darunter werden andere Geschichten erzählt. Das versuche ich durch das Kondensieren, durch das Verdichten, das nur noch das Notwendige zulässt, sichtbar zu machen.

Kommt da die Lyrikerin Vera Kissel ins Spiel?

Das auch. Obwohl ich mich da bändige. In der Lyrik erlaube ich mir, rhythmischer zu sein und in den Bildern auch surrealer.

Was war zuerst da?

Die Lyrik. Bereits seit ich 17, 18 bin. Angefangen, das ernstzunehmen, habe ich erst vor vielleicht zehn Jahren. Vor fünf Jahren war plötzlich das erste Stück da. Die Gedichte sind in der Regel aus einer Perspektive. In den Stücken gibt es viele „Ich“. Es sind alles Ensemblestücke. Fünf, sieben, acht Personen. Mein erster Versuch fürs Theater war ein Dreipersonen-Stück. In denen, die dann auch auf die Bühne kamen, findet man diverse Dreieckskonstellationen.

Wovon handelt„mondkind“?

Alle meine Stücke handeln von drei Menschen, die versuchen eine Familie zu bilden, die aber daran scheitern. Oder von Nachbarschaften, die mehr oder weniger gut funktionieren. Und immer haben alle Figuren eine unglaubliche Sehnsucht nach einem besseren Leben. Auch daran scheitern sie. Aber alle suchen wirklich nach Veränderung. Auch wenn sie mit ihren verqueren, traurig-komischen Dingen ein mögliches Glück wieder zerstören. Es geht mir um die Tatsache, dass ein Mensch, um aussortiert werden zu können, entwertet werden muss. Bei diesem gesellschaftlichen Vorgang habe ich angesetzt. Sehr vermittelt habe ich auch Erfahrungen mit dem Tod meines Vaters mit eingeschrieben. Dabei schreibe ich mich auf meine Grenzen, auf mein eigenes Tabu zu.

Gibt's da eine Entwicklung?

Ich glaube, ich schreibe mich immer weiter an die Dreieckskomödie heran. In „mondkind“ sind die Figuren alle tragikomisch. Das Komische kippt gegen Ende ins Tragische. Die „Marita“ ist die erste organische Tragikomödie, wo die Figuren ständig kippen.

Wie funktioniert das im Stück?

Schwierig war, mit Anton, dem „mondkind“ selber eine Person zu schaffen, die reduziert ist in ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Sprache ist ihm nicht so verfügbar. Es gibt viel mehr Regieanweisungen, um deutlich zu machen, ...

... dass Sprache auch anders funktionierren kann?

Ja. Und diese Person sichtbar zu machen. Da ihm Sprache kaum zur Verfügung steht, muss er auf andere Ausdrucksmöglichkeiten zurückgreifen, um seine Interessen zu vertreten. Fragen: Tim Schomacker

Uraufführung „mondkind“ am 10. Mai um 20.30 Uhr im Brauhauskeller; bitte beachten Sie auch das Idioten-Preisausschreiben rechts.