Schwitzen gegen rechts

55 Jahre nach der Befreiung des KZ Sachsenhausen üben sich jugendliche Punks und Antifas in „Nie wieder Faschismus“. Im Workcamp schaufeln sie im Gedenken vor Ort den Schutt der Vergangenheit und debattieren über die Revolution

von ANNETTE ROLLMANN

Es dauert lange, bis man ihre Augen sehen kann. Erst nach ein paar Stunden schiebt „Karpfen“ ihre Sonnenbrille in die schwarzen Haare hoch. Sie hat schöne Augen, aber ihr Blick ist verhangen. Sie würde sagen: verpennt, vielleicht breit. „Ich heiße Karpfen, weil ich ein Schluckspecht bin“, sagt die 26jährige, die älter aussieht. „Nee, kein Alkohol. Ich habe immer Wasser dabei.“ Karpfen hat sich in den Schatten des Industriehofs der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen zwischen unzählige Kippen auf dünnen Rasen gesetzt. Sie trägt einen kurzen Rock, der nach den Tagen der Arbeit und des Steine Schleppens staubig ist. „Wir räumen hier den Schrott weg. Alles. Auch den von der NVA“, sagt sie und schaut auf die Schuttberge in den Containern.

Seit vier Tagen schippt Karpfen zusammen mit weiteren 50 jungen Leuten die Überreste der Geschichte in Container, jeden Vormittag, insgesamt eine Woche lang. Karpfen und die anderen sind „Antifas“ oder zumindest deren Sympathisanten. „Die Störenfriede“, so der Name der Gruppe, hat das Camp zum 55. Jahrestag der Befreiung des KZ Sachsenhausen organisiert.

„Wir wollen der NS-Verbrechen gedenken, aber das auf keinem Fall mit dem sowjetischen Speziallager verbinden. Da wurden die Täter eingesperrt. Außerdem wurde nicht systematisch gemordet“, kritisiert Karpfen die Gedenkstättenpolitik später bei einem Rundgang über das Gelände. Die Sonne brennt dabei heiß auf die staubigen Wege. Karpfen trägt noch immer ihre dicke schwarze Lederjacke. Das Revers ist mit Antifa-Stickern gespickt. In den Ärmeln der Jacke wohnt ihre Ratte. Manchmal lugt das Tier hervor und verschwindet dann wieder schnell unter Karpfens linker Achsel.

Die Antifa-Jugendlichen wollen in der Aktionswoche „die oftmals verdrängten deutschen Verbrechen in Erinnerung halten“, schreiben sie programmatisch in ihrem Flyer. Eine andere Formel, die sie nennen ist: Nie wieder Auschwitz. Finanziert wird das Camp vom Netzwerk Berlin, der Stadt Oranienburg, der Gedenkstätte selbst und dem Deutsch-Polnischen Bildungswerk. Ein paar Punks und Antifaschisten sind aus Polen angereist, andere Teilnehmer sind junge Franzosen. Die meisten sind etwa 18 Jahre alt.

Die deutschen Jugendlichen stammen aus Berlin oder den Schlafstätten drum herum: genau aus denen, die nicht zu blühenden Landschaften wurden, sondern von den Rechten zu „national befreiten Zonen“ erklärt wurden. „Wir haben schon Rechte in der Stadt gesehen“, sagt ein wasserstoffblondes, junges Mädchen, das mit seinem Outfit an Blondie in Jung erinnert und gerade Küchenchefin Uschi in der Antifa-Unterkunft am Rande der Stadt beim Kochen hilft.

Denn der Tag bei den Antifas ist vollgepackt: Nach der körperlichen Arbeit am Vormittag beginnt jeden Nachmittag die politische Bildungsarbeit. Die Jugendlichen hören Referate über Auschwitz-Leugner David Irving und seinen Prozess in London oder diskutieren über das Geschlechterverhältnis aus Frauenperspektive.

Abends gibt es dann von Uschi veganische Kost und Zitronentee. Uschi, die eine Art Irokesenschnitt trägt, hat bis vor einem Jahr in einem „echt noblen Restaurant in Bielefeld gelernt. Dann habe ich die Lehre geschmissen, weil ich keine Lust mehr hatte, Faschisten und ihren Nachkommen Essen auf goldenen Tellern zu servieren“, sagt sie. Jetzt serviert Uschi Linseneintopf.

Die Unterkunft mit dem Charme einer Jugendherberge liegt abseits. „Hier sind wir unter Unseresgleichen. Wir stehen konfrontativ zum System“, sagt einer der Teilnehmer mit kurzen Haaren und Springerstiefeln zur Gruppendynamik. Dabei blickt er ernst.

Karpfen bleibt bei Diskussio nen lieber im Hintergrund. Auch zuvor beim Rundgang über das Gelände überlässt sie die Wortführerschaft lieber anderen, vor allem den Männern. Die können schließlich so gedrechselte Sätze sagen wie: „In der BRD herrscht ein antitotalitärer Konsens, die Antitotalitarismusdoktrin. Damit wird die BRD legitimiert und NS-Verbrechen durch den innerdeutschen Vergleich relativiert“, findet zum Beispiel Hermann Bödecke, der seinen wahren Namen nicht nennt, „weil es nun mal linke Doktrin ist, den Personenkult zu verhindern“. Nun gut.

Der 25-jährige Vorzeigeintellektuelle ist ein „linker Revolutionär“, wie er stolz vermeldet. Dabei blickt er, sich seiner Worte bewusst, in die Runde der Jugendlichen, die so markige Sprüche goutieren. Er wolle auf jeden Fall die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. „Mit einem linken Ansatz blickt man von außen auf den Staat. Wir üben Kritik. Wir wollen nicht reformieren, sondern die Revolution“, rasselt Hermann Bödecke triumphierend herunter. Hermann Bödecke würde sicherlich überall zurechtkommen. Und da passen solche Sätze gut ins Bild.

Karpfen, die in Marzahn aufgewachsen ist, sagt solche Sätze nie. Sie sagt: „Ich bin hier, weil ich eine geistig behinderte Schwester habe und schon zu DDR-Zeiten bemerkt habe, wie solche Menschen diskriminiert werden. Ich habe mich immer um sie gekümmert, auf der Straße haben sie uns alles mögliche hinterher geschriehen.“

Und ihre Eltern? „Mein Vater ist Reichsdeutscher, der in der SED war. Zu DDR-Zeiten hat er seine Positionen immer wieder indirekt durchblicken lassen, jetzt sagt er sie ganz offen.“ Um die behinderte Schwester hätte er sich nur „mit dem Papierkram“ gekümmert. Nach seinem Weltbild hätte die ja auch eliminiert werden müssen. „Auch als Frau hat er mich nie geachtet.“ Karpfen kommt so wie die anderen auch, „finanziell grad so eben zurecht“. Sie lebt vom Kindergeld und Bafög. Auf „dem Papier“ studiert sie Pädagogik. Manchmal steckt ihr die Mutter noch was zu. Sie lebt zusammen mit ihrem Haustier allein in einer Wohnung in Friedrichshain.

Die Männer diskutieren derweil lieber wieder über den richtigen Ansatz und vertreten sich vor dem ehemaligen Wachturm der SS auf dem Rasen ihre Beine. Der 38-jährige Mogens versucht, dem Intellektualismus von Mitstreiter Hermann Bödecke Einhalt zu gebieten.

Mogens stammt aus der Westberliner Hausbesetzerszene und ist gelernter Krankenpfleger. Er kritisiert an der gegewärtigen Gesellschaft vor allem die immer weiter um sich greifende Isolation der Menschen.

Er glaubt, dass das Gruppenerlebnis für die Jugendlichen wichtig ist: „An so einem Ort zu lernen, hat auch mit sinnlichen Erfahrungen zu tun. Es ist eben viel greifbarer, wenn ich im Boden grabe und plötzlich einen Knopf finde als wenn ich nur ein Referat darüber höre“, sagt er, der jetzt in Weimar in einer WG wohnt und „manchmal in einem Leseladen arbeitet“.

Von einem anderen Workcamp ein paar Jahre zuvor, erzählt er, dass die Antifas eine Baracke freigelegt haben, die vermessen und sich so der Geschichte des Ortes genähert hätten. „Das haben wir dann der Gedenkstätte auch als Dokumentation zur Verfügung gestellt.“

Ralph Gabriel, der 25-jährige pädagogische Betreuer der Gruppe, kritisiert den Paradigmenwechsel, der nach der Wende seiner Meinung nach im Erinnern stattgefunden hat.

Seit den frühen Neunzigerjahren gibt es in Deutschland eine breite öffentliche Gedenkstättenkultur. „Da kann man nun umherwandeln, und niemandem tut es mehr wirklich weh“, sagt er, während er seine Sonnenbrille in den Fingern hin und her dreht. Die Verantwortung wird nicht mehr angenommen, sondern auf die Gedenkstätten abgegeben, glaubt Gabriel und erzählt von Touristen, die erwartungsvoll fragen: „Where is the gas chamber? We want to see ist.“

Und mit großem Befremden sagt der Architekturstudent. „Das ist ein unerträglicher Hype. Da wird sich überhaupt nicht auseinandergesetzt.“

Und die Nazis selbst? Nach einer abendlichen Podiumsdiskussion, an der unter anderem der stellvertretende Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Winfried Meyer, teilnimmt und für die „Pluralität“ des Gedenkens plädiert – „Ich würde nach genauer Analyse des Programms auch eine rechte Gruppe auf das Gelände lassen“ – stehen die, um die es geht, tatsächlich seitlich vor dem Eingang Spalier. Gut durchtrainierte „Macker“, wie sie sich selbst gerne bezeichnen. Groß und kräftig. Doch die Antifas, viele mit Fahrrädern unterwegs sind, vermeiden die Konfrontation und drehen seitlich ab. Etliche Antifa-Frauen hatten ohnehin schon vorher ihre Sorgen geäußert, „alleine in Oranienburg auf die Rechten zu stoßen“. Die Neonazis hingegen stellen ihre Gewaltbereitschaft in dieser Nacht prahlend zur Schau. Einer, in einer engen hellen Hose und mit Bierflasche in der Hand, sagt zu seinem Kumpel: „Wenn sie gut sind, kommen sie hier vorbei.“ Der andere: „Nee, die kommen nicht, die haben Schiss in der Hose.“

Zu Veranstaltungsbeginn hatte die Polizei zum Schutz der Antifas noch einen Revierpolizisten vorbeigeschickt. Der hatte erzählt, „dass die Polizei gegenüber den Rechten in Oranienburg eine extrem niedrige Einsatzschwelle hat“. In diesem Moment, wo die kleine Gruppe der Oranienburger Nazis die Straße zurückerobert haben, ist die Polizei nicht in Sicht.