Nachtschwitzen in der Poczta Glowna

Einmal im Jahr, am 30. April, wird die Hauptpost von Warschau für tausende zum Zentrum des Irrsinns

Einmal im Jahr ist Warschaus Hauptpost „the hottest spot in town“. Am Abend des 30. April bleiben in den Kinos Plätze frei, Restaurants warten vergeblich auf Kundschaft, und in den Diskos ist vor Mitternacht rein gar nichts los. Die Poczta Głowna ist für wenige Stunden die Attraktion der polnischen Hauptstadt.

So auch in diesem Jahr. Am Ende eines wechselhaften Frühlingstages strömen die Warschauer zu tausenden in die Schalterhalle des monumentalen Gebäudes in der Swiętokrzyska-straße. Gibt es Sondermarken? Aktien? Freibier? Nein, am 30. April ist Einsendeschluss, Objekt der Begierde ist ein Poststempel – auf der Steuererklärung. Vier Monate haben die Leute Zeit gehabt, ihren Obolus für den Staatssäckel auszurechnen und, wenn nötig, abzuführen. Jede/r Fünfte drückt sich bis Ultimo vor der lästigen Pflicht und eilt erst am Stichtag zum Finanzamt. Oder am Abend zur Post.

Die Edelpunkerin stöhnt

Und wartet und schwitzt. Denn 5.000 Złoty (rund 2.500 Mark) Strafe drohen jedem, der sich nicht pünktlich erklärt. 22.54 Uhr. Die Digitaluhr auf dem Monitor über dem Informationsschalter gemahnt die Neuankömmlinge an das Verhängnis. „Oh Jesus, Maria, hoffentlich schaff’ ich’s noch bis Mitternacht“, stöhnt Agnieszka, eine Edelpunkerin, die mit ihrem Bündel Unterlagen und einem struppigen Köter im Gefolge zur Nummernausgabe hechelt. Anschließend bahnt sie sich ihren Weg durch ein Meer von bunten Steuerformularen, die halb ausgefüllt oder zerfetzt auf dem Fußboden liegen, und stellt sich in eine der 30 Warteschlangen.

Die samtblaue 498 rückt vor

23.20 Uhr. „Tausche Nummer 461 gegen 500“, ruft einer, der seit einer Stunde vor Schalter 16 ansteht, bald dran sein wird, aber mit Hilfe seines Taschenrechners überraschend neue Abschreibungsmöglichkeiten entdeckt hat. „Hierher, ich habe die 498!“, ruft eine umfangreiche Dame in samtblauer Abendgarderobe. Frau Karpińska hat es sich trotz eines „ungerechten Steuerbescheids“ nicht nehmen lassen, an diesem Abend in die Oper zu gehen. „Drei Stunden Don Giovanni haben eben ihren Preis“, seufzt sie, nimmt die 461 und rückt ein paar Plätze vor.

Die neue Nummer 498 indes tut es anderen gleich, setzt sich auf die Fliesen, zückt ihr Handy, bittet die Frau daheim, noch mal in diesen oder jenen Ordner zu schauen, und stiert immer wieder ungläubig auf das Display ihres Kalkulators.

Agnieszka hat die 521. Aber zum Glück haben die Angestellten, die das Ritual nun schon seit Jahren beobachten, ein Einsehen: Wer bis Mitternacht eine Nummer gezogen hat, bekommt, auch wenn das Einschreiben erst nach 00.00 Uhr aufgegeben wird, den Stempel vom Vortag.

Tack-tack, tack-tack, tack-tack. Die Schalterhalle vibriert wie ein Techno-Schuppen: Immer schneller, so scheint’s, sausen die Stempel auf Einschreiben und Einzahlungen nieder.

23.50 Uhr. An so manchem Pult tagt der Familienrat: Gehört der Kauf der neuen Wohnung nun auf das Formular PIT-Y oder PIT 54? Ungewohnt beflissene und freundliche Angestellte führen manch Ahnungslosem die Feder. Sogar die in Warschau obligatorischen Männer vom Wachdienst, die in der Regel professionelle Langeweile zur Schau tragen, geben gute Tipps.

1.04 Uhr. Agnieszka packt ihre fiskale Habe in eine Plastiktüte, grüßt im Vorbeigehen einige Freunde und Bekannte und setzt sich die Kopfhörer auf. „Geschafft“, atmet sie happy durch. „Nächstes Jahr“, sagt sie, „komme ich eine Stunde früher, da reicht’s wenigstens für eine Spätvorstelllung.“ HENK RAIJER