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: Künstliche Welten, künstliche Intelligenz

FAKE

Schon Rousseau hielt es für schwierig, „zu unterscheiden, was in der aktuellen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, und einen Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich nie existieren wird“. Die Skepsis gegenüber der so genannten Natürlichkeit hat sich seit Rousseaus Zeit multipliziert, und die Grenzlinien zwischen dem, was für künstlich, und dem, was für natürlich gehalten wird, zwischen Physis und Technik, sind immer stärker verwischt worden.

Im Zeitalter von telematischen Medien, Cyberspace und Gentechnologie sind sie kaum noch auszumachen. Das körperliche Dasein selbst scheint in den schönen, neuen virtuellen Welten zu schwinden.

Der Hannoveraner Germanist Manfred Geier geht in seiner Studie „Fake – Leben in künstlichen Welten“ den Fragen nach, was mit uns geschieht, „wenn Leben, Denken, Sprache, Kunst und Unterhaltung immer stärker in den Sog künstlich erzeugbarer Mechanismen geraten“, wie realistisch die Phantasmen des Künstlichen sind und welche Rolle sie in Literatur, Philosophie und Wissenschaft spielen.

Geier schlägt einen Bogen von Pandora, der ersten künstlichen Frau, bis zu den Visionen einer körperlosen Existenz im digitalisierten Cyberspace, wobei ihn besonders jene kulturgeschichtlichen Schnittstellen interessieren, in denen sich das Künstliche vom Natürlichen abgespalten hat. Dabei geht es auch um jene Traditionen, die gedanklich das Klonen von Lebewesen vorbereitet haben. „Zufälle, Abweichungen und Individualisierungen im natürlichen Fortpflanzungsprozess werden durch künstliche Manipulationen außer Kraft gesetzt. Die Unterscheidbarkeit von Einzelwesen durch natürliche Eigenschaften geht verloren. Die Differenz zwischen Individuum und Art wird durch die von Serienprodukt und Typ ersetzt.“

Dass die Diskussion dieser Problematik eine der größten ethischen Herausforderungen unserer Gesellschaft darstellt, ist spätestens durch Peter Sloterdijks provozierende Thesen deutlich geworden.

Die Science-Fiction-Literatur hat solche Prozesse freilich längst erzählend vorweggenommen, und man sollte solche literarischen Projektionen in der Debatte durchaus ernst nehmen, weil sie die möglichen Welten entwerfen, in die wir uns hinein bewegen.

Der englische Philosoph und Romancier Michael Marshall Smith liefert beispielsweise mit seinem Thriller „Geklont“ eine Horrorvision, eine Art neuen Frankenstein. Der Held hat sich jahrelang in einem Labor versteckt, in dem Klone als lebende Organspender für die Reichen und Mächtigen gezüchtet werden.

„Zweimal pro Tag überprüft ein Medi-Droide die Vitalfunktionen und verabreicht jeder dieser Reserven eine sorgfältig abgestimmte Mischung aus Nährstoffen, um sicherzugehen, dass sie wachsen und sich parallel zu ihren Zwillingen entwickeln. Ab und zu werden die Reserven ein bisschen bewegt, damit ihre Muskeln nicht verkümmern. Davon abgesehen kennen sie nur die ewige feuchtwarme, blaue Dämmerung, die geistlosen Laute der anderen Reserven und die trägen, unmotivierten Bewegungen um sich herum.“

Fragen nach biotechnologischer Reproduzierbarkeit korrespondieren auf vielfältige Weise mit dem Problem der künstlichen Intelligenz. Mit seinem Buch „Das Cambridge Quintett“ liefert der amerikanische Mathematiker John L. Casti eine romanhafte wissenschaftliche Spekulation.

Im Jahre 1947 treffen sich zu einem Dinner im Haus von C. P. Snow der Mathematiker und Miterfinder des Computers Alan Turing, der Genetiker J. B. S. Haldane, der Physiker Erwin Schrödinger und der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Die illustre Runde diskutiert im Wesentlichen das Problem, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen ein Computer „denken“ kann. Das Ganze klingt vielleicht ein bisschen nach Schulfunk, hat aber den Vorteil, den komplexen Zusammenhang allgemein verständlich aufzufächern.

Zu hoffen bleibt, dass Wittgenstein mit den Worten, die Casti ihm in den Mund legt, Recht behalten möge: „Menschliches Denken ist durch und durch mit Sprache verknüpft, die ihrerseits wiederum eine direkte Konsequenz einer gemeinsamen Lebensweise ist – der menschlichen Lebensweise. Und keine Maschine wird je dazu befähigt sein, an dieser Lebensform teilzuhaben, einfach weil sie eine Maschine ist.“

KLAUS MODICK

Manfred Geier: „Fake. Leben in künstlichen Welten“. rororo, 312 S., 22,90 DM. Michael Marshall Smith: „Geklont“. rororo, 430 S., 39,80 DM. John L. Casti: „Das Cambridge Quintett“. Diana TB, 160 S., 15 DM.