die jazzkolumne
: Die Miles-Davis-Lektion des George Benson

LASS DIE KLONS IM REGEN STEHEN

Miles Davis wollte da raus. Irgendetwas anderes machen. Weg vom Abstrakten, mehr Leute ansprechen. Herausfinden, wie sich elektrische Instrumente auf seine Musik auswirken, so klingen wie Muddy Waters in Chicago. Ein-Dollar-Fünfzig-Schlagzeugsound, Mundharmonika und Zwei-Akkorde-Blues. Miles Davis war auf der Suche, als er 1968 den Gitarristen George Benson ins Studio holte und „Paraphernalia“ aufnahm. Was vorher geschah, sei ausgereizt gewesen, gab Miles später zu Protokoll, das Jazz-Ghetto hatte endgültig abgewirtschaftet.

Am 17. Juli 1967 war John Coltrane im Alter von vierzig Jahren gestorben. Zwei Tage später ging das Miles Davis Quintet noch einmal ins Studio, um die insgesamt sechswöchigen Aufnahmen für das „Nefertiti“-Album zu beenden. In seiner Autobiografie – dem aufschlussreichsten Buch über den modernen Jazz – erinnert sich Miles an seine bedeutendste Band der Sechzigerjahre: Herbie Hancock, Wayne Shorter, Ron Carter und Tony Williams, der erst siebzehn Jahre alt war, als er 1963 von Davis engagiert wurde. Diese Rhythmusband gilt als eine der besten der Jazzgeschichte, und der Saxofonist Shorter ebnete mit der „Nefertiti“-Platte seine Anerkennung als einflussreicher Komponist des modernen Jazz. „Nefertiti“ zeigte noch einmal das kreative Potenzial dieser Musik, die Platte wurde zum Abgesang des so genannten Akustik-Jazz.

Der Titelsong ist ein knapp achtminütiges Schlagzeugsolo von Williams, das sich entlang der fortschreitenden Wiederholung des Themas entwickelt. Eine sehr ernste und introvertierte Komposition mit dieser sehr aufgestauten Mischung aus melodischer Schönheit und depressiver Harmonisierung. Aretha Franklin sang „Respect“ in jenem Sommer, und die Welt stand Kopf: Die äußerst gemäßigte afroamerikanische Zeitschrift Ebony erklärte 1967 zum Jahr von „’Retha, Rap and Revolt“. Privat hat Davis in jenen Jahren wiederholt mit den Folgen von Drogen- und Alkoholsucht zu kämpfen. Er verhält sich aggressiv gegenüber den Menschen, die er liebt, und er ist mitunter ernsthaft verwirrt. Dazu kommt eine Langzeitbehandlung wegen einer Leberinfektion. Übrigens eine Krankheitskarriere, die sich mit länger werdenden Auszeiten bis zu seinem Tod im September 1991 zieht.

Bei „Nefertiti“ hatte Miles sein eigenes Bild auf das Cover setzen lassen. „Sorcerer“, eine andere Platte, auch 1967 aufgenommen, zeigt das Gesicht seiner damaligen Affäre, Cicely Tyson. Auf „Filles de Kilimanjaro“, ein Jahr später produziert, ist dann die neue Ehefrau Betty Davis zu sehen, die ihn mit Jimi Hendrix und Sly Stone zusammenbrachte und somit einen großen Anteil daran haben sollte, dass sich Miles Davis schon bald darauf gründlich vom Jazz verabschieden wird.

Später, viel später, wird Miles Davis es dann in Ordnung finden, dass zwischenzeitlich John Coltrane seinen Platz als Führungsfigur des modernen Jazz eingenommen hatte. Nicht seine Musik, sondern Coltranes „A Love Supreme“ war zum musikalischen Symbol einer neuen Generation geworden. Das Davis Quintet jener Jahre schreibt zwar Jazzgeschichte, die Brillanz der kleinen Besetzung jedoch, „das Feuer, die Leidenschaft, der Zorn, der Ärger, die Rebellion und die Liebe“, wurden von Coltrane ausgedrückt. Dieser wurde von den jungen Schwarzen mit Afrofrisuren, Dashikis und erhobenen Fäusten ebenso gehört wie auf den Love-Ins der Pazifisten und Hippies. Coltrane war „zum Fackelträger des Jazz“ geworden. Nach seinem Tod, so befand Davis, war allerdings auch die Orientierung futsch.

Als Branford und Wynton Marsalis Anfang der Achtzigerjahre bei der Plattenfirma unter Vertrag kamen, für die Miles in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufnahm, hatten sie Gelegenheit, einen Blick auf die Verkaufszahlen ihrer Lieblingsplatten zu werfen. Von „Nefertiti“ waren binnen fünfzehn Jahren gerade mal 35.000 Stück verkauft worden.

George Benson ist es gewohnt, in etwas anderen Größenordnungen zu denken. Wenn sich zehnmal so viel am ersten Verkaufstag absetzen ließe, dann wolle er auch wieder eine richtige Jazzplatte machen. Benson, 58, begann als Straight-ahead-Jazzgitarrist, lang bevor er von Miles angerufen wurde. Seit fünfundzwanzig Jahren schon scheffelt er Grammies und Millionen mit smoothen Sounds und popformatiertem Souljazz.

Seine Jazz-Attitüde – Motto: ich spiele besser als alle anderen – hatte ihm einst nicht nur viel Ärger eingebracht, sondern auch die Miles-Lektion: Warte nicht, bis andere kommen und dich mit deinen eigenen Tricks aus den Charts kicken, lass die Klons im Regen stehen. Entdecke und öffne neue Welten – oder schaff dir zumindest deine eigene. Auf seiner CD „Absolute Benson“, die Ende Mai erscheint, gibt es nun eine Message aus Bensons World an die aktuelle Club- und DJ-Szene: „The Ghetto“. Benson hält sich dabei weitgehend an das partygroove-orientierte Donny-Hathaway-Original von 1970. War bei Hathaway das Ghetto noch exklusiv afroamerikanisch – all soul – so hat Benson die Tatsache, dass in den einst schwarzen Ghettos Nordamerikas heute auch zahlreiche Hispanics leben, mit Elementen aus der Latin Music illustriert. „The Ghetto“ geht bei ihm in die Eigenkompositon „El Barrio“ über, das spanische Synonym für The Ghetto und den New Yorker Stadtteil Spanish Harlem. Bei Hathaway lag die Betonung noch auf „This (Is The Ghetto)“ – afroamerikanische Lebenswelt, vorgeführt nach dem Motto: Weiße, schaut her, was ihr nicht habt.

Zeigen wollte er nur die schönen Dinge, so Hathaway damals, „den Groove der Straße, den wir atmen und lieben“. Wie Hathaway wuchs auch Benson im Ghetto auf, auch seine Einspielung demonstriert vor allem eines: soziale Kompetenz. Benson und Hathaway schafften beide den Weg aus dem Ghetto zum Superstar, sie wurden zu Helden, weil sie es geschafft hatten, und sie waren Anhänger einer universalistischen „Nutze dein Talent“-Perspektive, die im Gegensatz zum schwarznationalistischen Gruppenzwang der Nation Of Islam auf das kreative Potenzial der Individuen setzt, das Ghetto doch wenigstens in den Köpfen zu überwinden.

Dreißig Jahre nach Hathaways Ghetto-Party verortet Benson die Hörer nun von vornherein im Mittelpunkt des Geschehens. Das Ghetto ist hier lediglich ein Allgemeinplatz, ein virtueller Ort voller Vibe und Groove. Produziert worden ist die Aufnahme im klassischen Miles-Stil der späten Sechzigerjahre: Rein ins Studio und Orientierung suchen.

CHRISTIAN BROECKING