Entschuldigung!

DAS SCHLAGLOCH
von MICHAEL RUTSCHKY

Mit Tränen in den Augen hat ein ehemaliger Marine-Matrose, der weltweit vermutlich 17 Menschen ermordet hat, um Verzeihung gebeten. „Sorry“, sagte er, als er in Detroit im US-Bundesstaat Michigan zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde.

Süddeutsche Zeitung, 17. 4. 2000

RTL- Moderatorin Birgit Schrowange hat sich gestern für ihre behindertenfeindlichen Äußerungen in der Magazin-Sendung „Extra“ am 10. April entschuldigt. In der Anmoderation zu einem Beitrag hatte sie Behinderte als „hoffnungslos hässliche Menschen“ bezeichnet.

Der Tagesspiegel, 18. 4. 2000

Davor hat sich Oskar Lafontaine auf einem saarländischen Parteitag für seinen Rücktritt entschuldigt. Davor die österreichische Sozialdemokratie für die alten Nazis, die sie als Politiker weiterbeschäftigt hat. Der Papst entschuldigte sich für die historischen Verbrechen seiner Kirche – nein, so kann man es nicht sagen. Wolfgang Schäuble entschuldigte sich vor dem Bundestag für die Unklarheit seiner Aussagen in puncto Spenden seitens Karlheinz Schreibers; wenn ich mich richtig erinnere, hat sich auch Helmut Kohl irgendwann einmal bei seiner Partei in diesen Angelegenheiten entschuldigt – dann freilich nicht mehr. Vergangenes Jahr entschuldigte sich der frisch gebackene Bundeskanzler für das Ungeschick seiner ersten Regierungsversuche. Und begonnen hat diese Reihe US-Präsident Clinton, indem er sich wegen seiner Lügen betreffend Monica Lewinsky entschuldigte.

Dass dies Sichentschuldigen unterdessen verlässlich als Ritual funktioniert, ist bald bemerkt worden. Und korrekte Leserbriefschreiber, denen die Fehler und Missgriffe der Politiker ein Herzensanliegen sind, haben mehrfach – aber natürlich folgenlos – darauf hingewiesen, dass weder Helmut Kohl noch Wolfgang Schäuble noch Oskar Lafontaine sich entschuldigen können: Das können nur die anderen, die ich um Entschuldigung bitte. Entsprechend hat sich der Papst nicht entschuldigt, sondern um Vergebung gebeten; anders als „entschuldigen“ ist „vergeben“ mit dem Reflexivum nur in einem ganz anderen Fall möglich: „Der Papst vergibt sich nichts“, könnte der Kirchenkritiker spotten, „wenn er für die Sünden der Vergangenheit um Vergebung bittet; es sind ja nicht die seinen.“

Dies ist ein interessanter Punkt: Die deutsche Sprache lässt eine Bildung zu – ich entschuldige mich –, die der Sache nach unmöglich ist. Sozial gesehen kann ich mich gar nicht entschuldigen; das kannst nur du. Im Englischen kann man sich keinesfalls selbst entschuldigen, man sagt „pardon me“ oder „excuse me“ oder „I apologize“ oder „I ask your forgiveness“ (so hat es, glaube ich jedenfalls, Bill Clinton getan).

Gäbe es die ehrwürdige Verbindung von Sprachkritik und Ideologiekritik noch (die in den Fünfzigern und Sechzigern bei den intellektuellen Kadern eine richtige Mode war), dann könnte ich jetzt zornbebend sagen: Das ist doch typisch für die Deutschen! Kein Wunder, dass sie die ungeheure Schuld ihrer jüngsten Vergangenheit ignorieren, sich nicht stellen. Das brauchen sie ja auch gar nicht, wenn sie sich selbst zu entschuldigen vermögen! – Und ein geistesgeschichtlicher Exkurs (wie ihn diese Sprachkritik liebte) könnte behaupten, das hänge mit dem deutschen Protestantismus zusammen. Luther machte mein persönliches Gewissen zur obersten Instanz, vor der ich mich für Gedanken, Worte und Taten zu verantworten habe – da kann ich mich hinterher auch gleich selber entschuldigen (während in der römischen Kirche ja der Priester die Absolution erteilt).

Man kann im Hinblick auf die soziale Situation aber fragen, ob es wirklich einen Unterschied macht, dass Schäuble und Lafontaine oder Schröder sich entschuldigen oder um Entschuldigung bitten. Nein. Wenn juristisch relevantes Fehlverhalten vorliegt, nutzt die Entschuldigung eh nichts; dann arbeitet die Maschinerie. Sich entschuldigen oder um Entschuldigung bitten, das sind Gesten auf dem vagen Terrain des von Takt- und Benimmregeln beherrschten sozialen Umgangs, ein Terrain, das es unmöglich macht, Schäuble oder Lafontaine oder wem immer eine Entschuldigung, um die sie bitten, zu verweigern. Wer um Entschuldigung bittet, hat sie auch schon erhalten. Insofern ist das Bitten um Entschuldigung eigentlich schon die Entschuldigung, und diese Lage wird vom Sichentschuldigen zum Ausdruck gebracht.

Insofern haben die zornbebenden Leserbriefschreiber Recht, wenn sie die Folgenlosigkeit der Politikentschuldigung geißeln: Helmut Kohl kann gleichzeitig um Entschuldigung bitten und den Fehler wiederholen, für den er sich entschuldigt, nämlich sein Geldgeschenkwesen geheim zu halten. Der Gewinn, den die Geste einbringt, wird nur erkennbar, wenn man sie vor dem Hintergrund der Vergangenheit liest: Da zeichnen sich Politiker rundweg dadurch aus, dass sie für keine einzige ihrer Reden oder Taten um Entschuldigung zu bitten hatten. Ganz gleich, ob es um die Atombewaffnung der Bundeswehr oder den Milliardenkredit für die DDR ging, Franz Josef Strauß hatte stets das eindeutig Richtige gesagt und getan; und die zahllosen Korruptionsvorwürfe, das waren böswillige Verleumdungen seiner Gegner. In der Tat ist unvorstellbar, dass Franz Josef Strauß sich entschuldigt oder gar um Entschuldigung gebeten hätte.

Auch im Alltag ist das Bitten um Entschuldigung respektive Sichentschuldigen seltsam gratis – aber eben dies ist der Punkt. Für das richtige feine Benehmen gilt als Regel: Rempelt man auf der Straße oder im Café, im öffentlichen Raum einen Fremden an, so bitten beide um Entschuldigung, Rempler ebenso wie Gerempelter. Es soll von vornherein ausgeschlossen werden, dass einer den Rechtsstandpunkt einnimmt, ein zornbebendes „Warum stehen Sie im Weg?“ oder „Passen Sie doch auf, wohin Sie treten!“ äußert. Der Frieden bleibt gewahrt, indem beide behaupten, sie hätten ihn gebrochen.

Auf Berliner Straßen ist dies Ultimum an feinem Benehmen nur selten zu beobachten. Aber man kann auch hier verblüffende Erfolge erzielen, wenn man den unabsichtlichen Regelverstoß auf sich nimmt – ganz gleich, wer ihn von Rechts wegen zu verantworten hat – und um Entschuldigung bittet. Sie wird so automatisch gewährt, dass man wiederum den Eindruck gewinnt, es sei in der Tat möglich, sich selbst zu entschuldigen. Wer um Entschuldigung bittet, dem kann sie unmöglich verweigert werden – die Verweigerung wäre ein sehr viel schwererer Regelverstoß.

Mein Hund pflegt ohne Leine auf dem Bürgersteig zu laufen. Die zaubrische Textwelt der Gerüche von seinesgleichen reißt ihn bald hierin, bald dorthin – und dabei kommt er schon mal einem Passanten oder Radfahrer in die Quere. Wenn ich mich dafür entschuldige, bekomme ich so gut wie nie als zornbebende Erwiderung: „Er gehört ja auch an die Leine!“, sondern in der Regel eine Rechtfertigung des Hundes zu hören: „Er hat halt anderes im Sinn.“ Oder: „Hundemitteilungen gehen vor Menschenmitteilungen.“ Besonders interessant sind die Entschuldigungen der Radfahrer: Sie weisen gern darauf hin, dass sie ja ihrerseits eigentlich gar nichts auf dem Trottoir zu suchen haben, also eigentlich die Bewegungsfreiheit des Hundes einschränken – selber schuld sind, wenn er sie behindert. So trennt man sich im besten Einvernehmen, ohne irgendeine Maßnahme ergriffen zu haben. Die Folgenlosigkeit des Sichentschuldigens macht es so wertvoll.

Hinweis:Franz Josef Strauß hat stets das „Richtige“ getan, er hätte sich nie entschuldigtDie vollkommene Folgenlosigkeit des Sichentschuldigens macht es so wertvoll