„Es wurde uns gesagt, dass wir darüber nicht sprechen sollten“

Jutta Gottschalk, Nebenklägerin im Dopingprozess, musste als Zehnjährige Präparate schlucken. Sie hat den Verdacht, dass die Sehbehinderung ihrer Tochter eine Spätfolge ist

Zehn Jahre war Jutta Gottschalk alt, als ihr beim Schwimmtraining in Magdeburg das erste Mal Pillen verabreicht wurden. Es handele sich um Vitamine, wurde der zweimaligen DDR-Schülermeisterin im Brustschwimmen damals gesagt. Dass dem nicht so war, wurde Jutta Gottschalk (34) erst 20 Jahre später bewusst. Seitdem quält sie der Verdacht, dass es sich auch bei der Sehbehinderung ihrer sechsjährigen Tochter Corina um eine Spätfolge der DDR-Dopingpraxis handelt.

taz: Frau Gottschalk, wann wurden Ihnen das erste Mal Pillen verabreicht?

Jutta Gottschalk: Als ich mit dem Leistungstraining in Magdeburg begonnen habe, ich war damals 10 Jahre alt.

Wie ging das vor sich?

Am Beckenrand stand für jeden von uns immer so ein kleines Töpfchen bereit, in dem die Pillen drin waren, die man schlucken sollte. Es ging dabei immer ziemlich hektisch zu: Raus aus dem Becken, Tabletten schlucken und wieder rein ins Wasser.

Wie hat man Ihnen gegenüber die Einnahme begründet?

Zu uns hat man gesagt, dass es sich dabei um Vitamine handele. Die kleinen gelben Pillen seien Vitamin B 1, die kleinen braunen Vitamin E. Später wurden es dann immer mehr von diesen Dingern, in den verschiedensten Farben, blaue, rote und durchsichtige. Manchmal waren da bis zu 20 Pillen in dem Töpfchen, die hat man dann alle auf einmal genommen. In der Hochphase hat sich das bis zu drei Mal täglich wiederholt.

Ihre Eltern haben sich keine Gedanken darüber gemacht, was Ihnen da als Kind verabreicht wurde?

Meine Eltern haben davon gar nichts gewusst. Es wurde uns ja immer gesagt, dass wir darüber nicht sprechen sollten. Außerdem haben wir unseren Trainern blind vertraut, die waren wie Ersatzeltern für uns.

Wie wurde die Einnahme von den Trainern überwacht?

Am Anfang so gut wie gar nicht, da durften wir die Pillen alleine nehmen. Doch dann hat uns unsere Trainerin, die Frau Feustel, einmal dabei erwischt, wie wir in den Umkleidekabinen mit den Dingern Murmeln gespielt haben, weil es ganz einfach unangenehm war, diese Menge zu schlucken. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Einnahme streng kontrolliert.

Hat sich nie jemand geweigert?

Nein, jedenfalls ist mir kein Fall bekannt. Wenn es jemand gewagt hätte, wäre er wohl rausgeflogen.

Sie selbst haben damals keinen Verdacht geschöpft, dass es sich bei den Pillen um Doping handeln könnte?

Nein, wie denn auch? Wir waren doch noch Kinder. Hinzu kam, dass ich persönlich damals nicht unter den negativen Folgen litt, die man heute kennt, zum Beispiel, dass Mädchen eine tiefe Stimme bekommen. Womit ich Probleme hatte, war meine Regel. Die bekomme ich nach wie vor unter wahnsinnigen Schmerzen. Heute weiß ich, dass das von den Pillen kommt.

Auch die Behinderung Ihrer Tochter Corina haben Sie lange Zeit nicht mit den Pillen von früher in Verbindung gebracht.

Dass Corina mit Grünem und Grauem Star auf die Welt gekommen und auf dem rechten Auge fast blind ist, habe ich lange Zeit als Schicksalsschlag hingenommen. Die Augen wurden mir erst Ende letzten Jahres geöffnet.

Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Lothar Kipke, den ehemaligen Arzt des DDR-Schwimmverbandes.

Genau. Da habe ich nach fast 20 Jahren das erste Mal so richtig mitgekriegt, dass uns Doping verabreicht wurde. Außerdem habe ich bei dem Prozess, in dem ich als Nebenklägerin aufgetreten bin, mit anderen Kolleginnen von früher gesprochen. Dabei kam heraus, dass viele ehemalige DDR-Sportler behinderte Kinder haben.

Auch im jetzigen Prozess gegen Manfred Ewald und Manfred Höppner sind Sie eine der Nebenklägerinnen. Was erhoffen Sie sich davon?

Gerechtigkeit. Dass Corina versorgt ist, egal wie ihr Leben verläuft. Sie ist es ja, die mit dieser Behinderung leben muss. Sie wird ja mal älter, wie soll ich ihr das dann erklären?

Interview: FRANK KETTERER