„Alles unter 45“

Entsteht aus Pop und Underground die neue Avantgarde? Ein Gespräch mit Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen

taz: Oberhausen ist eine der ältesten Institutionen in Sachen Kurzfilm. Wie schafft es das Festival in seiner 46. Ausgabe, Fachleute und gleichzeitig ein junges Publikum anzusprechen?

Lars Henrik Gass: Unsere Konzeption ist, wie ich immer etwas sarkastisch anmerke, eigentlich die Verlängerung von Richard Wagners Festspielgedanken, allerdings ohne die elitäre Entwicklung, die Bayreuth dann später genommen hat. Sehr alte Festivals haben generell einen Konflikt auszuhalten, der darin besteht, dass es eine klare Vorstellung davon gibt, wie das Festival früher war. Diese Mythosbildung ist in Oberhausen besonders hartnäckig wegen des Oberhausener Manifests von 1962, mit dem dieses Festival zum Geburtsort des Neuen Deutschen Films wurde und seinen Anspruch als Ort der Avantgarde betonte. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Gegenwart haben wir uns entschieden, den Begriff Kurzfilm sehr weit zu fassen und alle Videoformate einzubeziehen, im Grunde jedes projizierbare Bild unter einer Länge, sagen wir mal, von 45 Minuten. Und zwar alle Genres von Kurzfilmen bis hin zum Musikvideo.

Geht es dabei auch darum, junge Leute zum Festival zu locken?

Im Verlauf so vieler Jahre verändert sich natürlich auch ein potenzielles Publikum. Gerade in den letzten 10, 20 Jahren ist das traditionelle Fachpublikum weggebrochen, auf Grund der Tatsache, dass Kurzfilm im Kino immer weniger bedeutsam ist. Die Einrichtung eines Musikvideo-Preises steht durchaus in diesem Zusammenhang. Aber natürlich gehört dieses Genre auch zum Kurzfilm. Dabei zeigen wir längst nicht alle Arten von Musikvideos und unterscheiden uns in unseren Standards von anderen Musikvideo-Preisen oder dem Musikfernsehen selbst.

Früher nannte sich das Festival „Fenster zum Osten“, weil osteuropäische Kurzfilmer Oberhausen als Forum nutzten. Welchen Stellenwert haben die Beiträge aus Osteuropa im thematischen Doppelsonderprogramm „Pop Unlimited“ und „Sex, Rock ’n’ Roll and History“ unter diesem traditionellen Aspekt?

In den letzten Jahren ist die traditionelle akademische Filmproduktion in Europa völlig zusammengebrochen, und es sind völlig neue Formate der kurzen Form entstanden. Die kleinen digitalen Videoformate, aber auch CD-ROM und Internet – da gibt es Austauschbeziehungen. Unser Anspruch ist es, diesen gesamten Komplex darzustellen, und das natürlich auch unter besonderer Berücksichtigung der Tradition, die der Osten in den Kurzfilmtagen hat. Es geht in diesem Doppelprogramm auch um die Zukunft der Avantgarde, die in Oberhausen immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Wir fragen uns auch, ob der klassische Avantgardebegriff, der an den Experimentalfilm gebunden war, überhaupt noch gültig sein kann. Zumal wenn man sich die Entwicklung im Osten und in der Populärkultur anschaut oder bei Filmemacherinnen und Filmemachern, die zwischen Musikvideo, Kurzfilm und anderen Formaten hin und her springen. Man kann schon sagen, dass Popkultur und auch der Ost-Underground die traditionellen Avantgardebegriffe in Frage stellen.

Gibt es auch Verschiebungen von der Populärkultur zum Underground oder vom Underground zur Populärkultur?

Es ist weniger eine Verschiebung als ein Bruch. In der Popkultur tauchen jetzt bestimmte Elemente von Avantgarde wieder auf, beispielsweise das Bewusstsein von ästhetischen und sozialen Unterschieden, was ein klassisches Erkennungsmerkmal von Underground überhaupt ist. Das tritt in neuen Kontexten auf, sogar ohne Kunstanspruch. Im Osten indessen setzt sich die Avantgarde sehr stark von der traditionellen Experimentalfilmkultur ab und ebenso von der Populärkultur im Westen. Der Ost-Underground ist in gewisser Weise auch ein Reflex auf die Entwicklung im Westen. In den Sonderprogrammen „Pop Unlimited“ und „Sex, Rock ’n’ Roll and History“ kann man ganz hervorragend beobachten, wie sich die klassischen Vorstellungen von Avantgardefilm und Experimentalfilm allmählich auflösen.

Das heißt, es gibt gar keine Trennlinie mehr zwischen kommerziellem Pop und antikommerziellem Underground?

Was wir schon seit längerem beobachten, ist der Umstand, dass die klassischen Genre-Einteilungen nicht mehr funktionieren. Es gibt viele Mischformen: zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm, zwischen Dokumentarfilm und Experimentalfilm und dergleichen, sodass es außerordentlich schwierig ist festzustellen, in welchem Genre man sich bewegt. Natürlich ist Kurzfilm traditionell ein Medium, in dem sich Filmemacher und Filmemacherinnen relativ frei, ohne den Druck von bestimmten Etats bewegen können. Da ist allein aufgrund der Produktionsumstände ein freierer Umgang mit Formen Standard. Der Begriff des Politischen, so wie er klassisch gefasst wurde, ist nicht mehr in rein dokumentarische Formen gegossen. Der klassische Dokumentarfilm, der ein bestimmtes politisches Thema abbildet, verschwindet und der klassische, strukturale Experimentalfilm auch. Aber es tauchen sehr interessante neue politische Formen auf. Beide Entwicklungen beobachten wir mit einer gewissen Aufmerksamkeit und durchaus nicht mit Trauer. Interview: CORNELIA FLEER

Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, ab heute bis zum 9. Mai