Lektion für Tony Blair

Der britische Premier hat den Mid-Term-Blues. Wenn er sich retten will, wird er bald auf den sozialdemokratischen Klassiker setzen müssen: eine sozial gerechte Gesellschaft
von ROBERT MISIK

Ist es nur eines jener üblichen Formtiefs einer Regierung zur Mitte der Legislaturperiode? Oder trudelt Tony Blairs New Labour in eine ernsthafte Krise? Die Frage wird demnächst wohl häufiger gestellt werden. Denn drei Jahre nach dem triumphalen Wahlsieg des Strahlemannes – Jahre, in denen seine Regierung Popularitätswerte aufwies, die seit der Erfindung der Meinungsumfrage kaum irgendwo einmal erreicht worden waren – hat die Labour-Regierung den Mid-Term-Blues.

Wenn heute bei den Kommunalwahlen 3.000 der lokalen Politjobs neu vergeben werden, dann wird es für die Blair-Partei wohl eine ganze Reihe an Niederlagen setzen, da und dort sogar ernsthafte Blamagen – vor allem in der Metropole London, wo Labour mittlerweile nicht einmal mehr den eigenen Kandidaten unterstützt und die Wahl des linken Ex-Labour-Mannes Ken Livingstone als sicher gilt. Wenn sich der Schock letztlich doch in Grenzen halten dürfte, so vor allem deshalb, weil die konservativen Tories auch drei Jahre nach dem „Wahlmassaker“ vom 1. Mai 1997 noch immer zerstört am Boden liegen.

Eine wachsende Mehrheit der Briten zweifelt bereits, das ergab jüngst eine Gallup-Erhebung, an der Ehrlichkeit und Integrität der Regierung, 47 Prozent zeigen sich enttäuscht über die allgemeine Performance der Blair-Mannschaft. Vor allem jene, die am Rand der Gesellschaft leben oder aus dem produktiven Leben ausgeschlossen sind – und die in diese Regierung große Hoffnung setzten –, sind schwer enttäuscht, ebenso jene, die weitgehend auf wohlfahrtsstaatliche Transfers angewiesen sind, allen voran die Rentner.

„Konservativ und oft auch Rassisten“ seien die Pensionisten, jammerte in einer internen Beratung unlängst Labour-Fraktionschef Oliver Soley – peinlich, dass die Bemerkung an die Öffentlichkeit kam. Die Stimmung der ohnehin bereits aufgebrachten Rentner hat das nicht unbedingt gehoben. Jetzt soll sie eine eilig verkündete Rentenerhöhung milder stimmen. Doch für die Kommunalwahlen hat Labour die große, oft wahlentscheidende Bevölkerungsgruppe bereits abgeschrieben.

Die Ursache der düsteren Stimmung lässt sich statistisch erfassen und wurde unlängst vom „Office of National Statistics“ präsentiert. Im Finanzjahr 1998/99 hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet. Die Einkommensverteilung ist gespreizt wie seit 1988 nicht mehr. Das heißt, pointiert gesagt: Die späten Thatcher-Jahre waren eine egalitäre Epoche im Vergleich mit den ersten Blair-Jahren. Kein besonders gutes Zeugnis für einen Politiker, der sich zwar schon seit längerem sagen lassen muss, er betreibe „Thatcherismus mit menschlichem Antlitz“, der aber immerhin nicht müde wurde zu betonen, in seiner „One Nation“ Großbritannien sollte jeder am Wohlstand teilhaben, ja man müsse sogar „Gleichheit neu denken“.

Zwar ist unbestritten, dass das Steuer- und Sozialsystem an Umverteilungseffekten wieder gewonnen hat und die Armen nicht ärmer werden (im Unterschied zu den Jahren davor). Für Familien mit Kindern, die am Rande des Existenzminimums lebten, wurde via Steuersystem einiges getan, auch für Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Ebenso wurden Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt. Und die wachsende Ungleichverteilung ist eher Folge des Booms und der wirtschaftlichen Dynamik, von der die Reichen einfach mehr profitieren als die Armen. Doch zumindest die schiefe Optik bleibt.

Schon prophezeien Auguren eine Art „Linkswende“ der stilbildenden Partei der sozialdemokratischen „Neuen Mitte“ für die zweite Hälfte der Legislaturperiode. Ab nun könnte kräftiger in die Wohlfahrt und in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investiert werden, der Staat wieder verstärkt in die Wirtschaft investieren – schließlich geht es für Blair ja darum, auch bei den Wahlen 2002 mit einer satten Mehrheit ausgestattet zu werden. „Für zu viele Menschen ist ihr Alltag immer noch ein ewiger Kampf“, beklagte der Labour-Premier unlängst im Wahlkampf. Sätze, wie sie jetzt wieder häufiger vernommen werden. Schon seit dem jüngsten Labour-Parteitag kündigt sich verstärkt eine Kurskorrektur an.

Dabei hat der Labour-Frontmann von seinem Charisma selbstverständlich nichts verloren, auch seine dominante Stellung in der britischen Politik ist unbestritten. Doch mit der Entmachtung des Parteiapparats, der Zerschlagung von „Old Labour“ und dem Einzug in die Downing Street hat sich um den Regierungschef und seine Günstlinge ein Klüngel etabliert, der die Macht monopolisiert und eitel darauf bedacht ist, alle Fäden in der Hand zu halten und die Partei als Interessenvertretung des aufstrebenden Mittelstands zu präsentieren. Dies half zwar, die Mittelschichten zu gewinnen, welche die einst sektiererische Labour Party abschreckte, führt nun aber zu politischen Folgekosten. Das PR-Konzept von einst geriert nun ein massives Imageproblem.

„Die Leute, die Großbritannien regieren, sind blind für die Probleme der Unterklassen“, meint Charles Murray, Forscher am American Enterprise Institute. Ein Eindruck, der sich indes in der britischen Öffentlichkeit verdichtet. Dass Großbritannien unter Blair zu einer gerechteren Gesellschaft geworden ist, die den Unterprivilegierten faire Chancen einräumt, meint kaum jemand. Schlimmer noch: Kaum jemand glaubt, dass dies das Ziel der Blair-Regierung ist.

Da hilft dann alles Spin-Doktern nichts mehr, und auch die mit missionarischer Rhetorik vorgetragenen kommunitaristischen Pathosformeln klingen plötzlich seltsam hohl. Und es erweist sich jetzt auch, wie dünn die Personaldecke jenseits des Blair-Klüngels ist. Dass die regierende Labour-Partei furios daran gescheitert ist, gegen den „Old-Labour“-Mann „Red Ken“ Livingstone in London einen erfolgsträchtigen Anwärter aufzubauen, zeigt zweierlei: Die Partei hat derzeit ihre taktischen Fähigkeiten vollkommen eingebüßt, und – was noch schlimmer ist – New Labour braucht dringend charismatische Politiker.

So scheint sich zur Mitte der Legislaturperiode eines abzuzeichnen: keine gefährliche Krise für Tony Blairs Regentschaft, aber doch eine Krise des Blairismus als eurosozialdemokratisches Leitmodell. Selbst der stilbildende Prophet des neuen – „dritten“ – Mittelweges wird nun von dem Umstand eingeholt, dass die Sozialdemokratie nur dann dauerhaft die Unterstützung der Mehrheit gewinnen kann, wenn sie glaubhaft die Gerechtigkeitsideale ihrer Anhänger verkörpert; und dass die Strafe auf den Fuß folgt, wenn sie auch nur den Anschein erweckt, ihre Politik ziele nicht auf mehr Gleichheit, auf mehr soziale Sicherheit ab, ihr Werben um die Mittelschichten habe nicht mehr den Fluchtpunkt, diese Mittelschichten für eine Politik der Solidarität und der Umverteilung zu gewinnen.

Das ist die Lektion, die Blair dieser Tage lernt. Sie sollte auch seinen Schülern eine Lehre sein.

Hinweise:Thatchers letzte Jahre waren eine egalitäre Ära verglichen mit Blairs AmtszeitBlairs PR-Konzept von einst geriert nun ein massives Imageproblem