Die Glaubensgenossen

Kakerlaken? Die Folgen des Kapitalismus. Kritik? Dann gibt es eben erst mal keinen Parteitag. Wenn aus einem Landesvorstand eine Sekte wird

von HEIKE HAARHOFF

Als sie die Kakerlaken im Fachschaftscafé entdeckte, wusste sie, dass er unerreichbar geworden war. Dazwischen lagen ein Schrei und zehn Worte. Sie: Iiiih! Alles voller Kakerlaken! Er: Da siehst du die Folgen des Kapitalismus. Den Kammerjäger konnte er nicht rufen. Was hätte der auch genutzt, solange die Verhältnisse nicht überwunden waren?

Wie lange ist das her? Fünf, sechs Jahre? Es war der Zeitpunkt, sagt sie, an dem der Student Kristian Glaser abdriftete. Fortan kam er nur noch mit einer Hand voll Gleichgesinnter an der Hamburger Uni klar: der Liste Links.

Die Pfiffe gegen Gysi? Notwehr

Neulich hat sie ihn wieder gesehen. Nicht persönlich, der Kontakt ist abgerissen, deswegen will sie auch nicht, dass ihr Name gedruckt wird. Es war im Fernsehen, Kristian Glaser war in Münster beim Bundesparteitag der PDS, als Delegierter aus Hamburg. Sie sah, wie er, mittlerweile irgendwas um die 30, Fähnchen schwenkte und johlte, sobald Redner in der Grundsatzdebatte um Krieg und Frieden für den Einsatz von Blauhelmen stritten. Sie sah, wie er und Kirsten Radüge und Olaf Walther, also die beiden anderen Hamburger PDS-Delegierten, die sie auch noch von der Uni kannte, den Parteitag mit Anträgen zur Geschäftsordnung lahmzulegen drohten. Sie sah, wie Olaf Walther Gregor Gysi nach dessen Abschiedsrede aus der Bundespolitik eine Banane auf den Sitz legte – „als symbolischer Rekurs auf die Ossi-Banane nach dieser bemühten Ankommensrede“, wie Walther später sagen würde. Sie erfuhr, dass der Hamburger Landesvorstand identisch geworden ist mit der Führung der Liste Links. Und sie dachte, dass es mehr sei als die „Terrorisierung“, von der Bundestagsfraktionschef Gysi sprach und wegen der einzelnen PDS-Vorständlern nun Abwahl oder Rausschmiss aus dem höchsten Landesparteigremium drohen.

Es ist ein trüber Tag in Hamburg, doch für Landespolitiker könnte er aufregender kaum sein: Mittags hat die Europäische Kommission grünes Licht dafür gegeben, dass das Mühlenberger Loch, Europas größtes Süßwasserwatt im Stadtteil Finkenwerder, in Teilen trockengelegt werden darf, damit die Flugzeugherstellerin Dasa dort den Superairbus A 3XX bauen kann. 16 Uhr, Kirsten Radüge hat Sprechzeit in der PDS-Landesgeschäftsstelle. Mühlenberger Loch? Doch, der Name ist ihr schon mal untergekommen. „Ehrlich gesagt, ich habe heute noch gar nicht Radio gehört oder Zeitung gelesen.“ Sie schiebt diverse Ausgaben Neues Deutschland, Flugblätter und PDS-Rundbriefe beiseite. Es gibt Wichtigeres. „Nach diesem Erfolg“, sagt sie und meint den Beschluss des Parteitags, selbst Bundeswehreinsätze mit UN-Mandat abzulehnen, „werden wir uns stärker in die Diskussion um das Parteiprogramm einmischen“. Konkret: „Entsprechend der Verschärfung der Verhältnisse werden wir die Kritik am Kapitalismus verschärfen.“ Dass ihre Art der Einmischung als unerträglich empfunden wird, ist ihr neu. „Das eigentlich Provokative war doch, dass die PDS ihre friedenspolitischen Grundpositionen aufgeben sollte.“ Und noch was: Der Gysi hat nach einem Parteitag Zugang zur „Tagesschau“, von wo er seine Positionen in Millionen Haushalte verbreiten kann. Sie nicht. Das ist die wahre Ungerechtigkeit. Nicht ihre Zwischenrufe und Pfiffe, die ihm das Wort abschnitten. Die waren Notwehr.

Kirsten Radüge ist allein im Büro. Eigentlich sollten mehrere Mitglieder des zehnköpfigen Vorstands an dem Gespräch über Zukunft und Selbstbild der Hamburger PDS teilnehmen. Es sind ihnen Termine dazwischen gekommen. Vorher abgesagt hat niemand. Seit dem Parteitag in Münster sind die Hamburger bundesweit bekannt: als Störer, als Sektierer, als „pubertierende Mensa-Genossen“ (Gysi) zwar, aber immerhin. Privilegiert ist, wer überhaupt einen Interviewtermin kriegt.

Die Kollegin von Super Illu ist es nicht. Sie ist auf gut Glück vorbeigekommen und erfährt nun, dass ihre Zeitung „keine politische“ sei und die PDS-Landesvorsitzende nicht gedenke, mit ihr zu reden, geschweige denn in dem Blatt aufzutauchen „als Dekoration zwischen, zwischen...“ – kapitalistischen Titten, möchte man ihren Gedanken zu Ende führen. „Unsere Leser sind PDS-Wähler“, keift es zurück, bevor die Tür ins Schloss fällt.

Ein paar Tage später ist in Hamburg Ostermarsch. Diesmal ist der Landesvorstand nahezu vollständig: Kirsten Radüge und Kristian Glaser, die beiden Chefs, Olaf Walther, wegen seines früheren Wirkens in DKP und diversen marxistischen Hochschulgruppen auch der Chefideologe genannt, diesmal ohne Banane, Elisabeth Schmidle, die Schatzmeisterin, Anja Post-Martens, die Professorentochter und Gegnerin des Mäzenatentums an Universitäten, und Tim Petersen, der „zur PDS kam, weil ich entsetzt war, dass Teile der Partei das Privateigentum an Produktionsmitteln akzeptieren“.

Unter der roten Parteifahne spazieren sie ruhig und unauffällig dem Lautsprecherwagen hinterher. Tausend Menschen demonstrieren für den Frieden. Im Kaukasus haben russische Truppen die Bevölkerung einer ganzen Republik zu Obdachlosen, Waisen und Krüppeln geschossen, doch in Hamburg fällt das Wort Tschetschenien nicht. „Wir können ja nicht ständig und überall Reden halten“, sagt Kirsten Radüge. Das russische Konsulat an der Außenalster bleibt an diesem Ostermontag von unliebsamen Besuchern verschont. Zu danken ist es dem PDS-Landesvorstand: Ein Protestzug vorbei am russischen Konsulat lenke vom Imperialismus im eigenen Land ab. Die anderen Aufrufer zum Ostermarsch – immerhin ein gutes Dutzend linker Gruppen – schluckten das und änderten die Marschroute.

Man muss es sich so vorstellen, sagt Markus Gunkel, der aus dem PDS-Vorstand in die Parteilosigkeit geflohen ist: „Bei linken Aktionstreffen haben die PDS-Vorstände das meiste Sitzfleisch. Sie beharren so lange auf ihren Positionen, bis andere genervt weglaufen.“ Man muss es sich so vorstellen, sagt Monika Balzer von der Kommunistischen Plattform: „Parteitage dauern oft mehrere Wochenenden, Personalwahlen finden erst am Ende statt. Wer nicht Langzeitstudent ist, sondern nebenher noch Familie und Job hat, schafft das nicht.“ So bestätigt sich der Vorstand seit Jahren immer wieder selbst. Man muss es sich so vorstellen, sagt Gerald Kempski von der Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft: „Wenn du sagst, dass du Kompromisse schließen musst, wirst du niedergeschrien, ausgelacht, als Depp vorgeführt, weil du dich angeblich mit kapitalistischen Bossen an einen Tisch setzt, anstatt marxistische Theorie zu lesen.“ Man muss es sich so vorstellen, sagt der Journalist und frühere Landesvorstand Joachim Bischoff: „Im Mitgliederrundbrief erscheinen nur Beiträge, die vom Vorstand genehmigt sind.“ Schließlich wird die PDS-Publikation, anders als die Pamphlete der Liste Links, eher wahrgenommen. Warum die mit anderen teilen?

Man muss es sich so vorstellen, sagt Meinhard Meuche-Mäker, Regionalvertreter der PDS-Bundestagsfraktion in Hamburg: „Wenn man mit denen ein Büro teilt und sich nicht zu schade ist, zu Jugendarbeitslosigkeit oder Rentenfinanzierung Stellung zu beziehen, dann verschwinden Briefe, werden Anrufe nicht durchgestellt und Wahlkampfveranstaltungen mit Vertretern der Bundes-PDS gestört, dass es peinlich ist.“

Jede Frage ein Misstrauensvotum

Meinhard Meuche-Mäker sitzt nicht mehr in der Landesgeschäftsstelle nahe der Elbe, sondern in einem Souterrain im Hamburger Uni-Viertel, man könnte auch sagen in einem Kellerloch, die Partei kann sich zwei Büros in einer Stadt eigentlich nicht leisten, aber das ist es ihr wert. Denn lange, davon ist Meinhard Meuche-Mäker überzeugt, wird diese Situation nicht mehr andauern: Auf der nächsten Landesmitgliederversammlung, so haben es sich PDSler von Kommunistischer Plattform bis Reformsozialisten in seltener Einmütigkeit geschworen, werden sie durchhalten, egal, wie lange die Sitzung dauert, und den Landesvorstand im Namen der innerparteilichen Demokratie zum Rücktritt zwingen. Den genauen Schlachtplan wollen die „Oppositionellen in der eigenen Partei“, wie sie sich nennen, heute festlegen.

Man stellt sich das alles vor und geht wieder in die PDS-Landesgeschäftsstelle, da sitzen jetzt sechs Genossen, aufgetischt werden „1a-Salami“, vakuumverpackt, und Cola Light. „Sonst noch Wünsche“, fragt Tim Petersen in die Runde, bevor er zum Einkauf in Richtung Tankstelle aufbricht. Ja, bitte, Erklärungen. Erklärungen? Was für Erklärungen? Und wofür? Hat die Besucherin etwa noch mit anderen PDSlern gesprochen? Ist sie, wie Olaf Walther wohlwollend unterstellt, deren „baren Unsinn“ aufgesessen? Nein? Sechs Augenpaare werden schmal. Worin denn das Interesse der taz an der Hamburger PDS bestehe? Ob die Redaktion die Vorgabe habe, Gysis realpolitischen Kurs publizistisch zu unterstützen? Jede Frage ein Misstrauensvotum. Eins will Kristian Glaser daher vorsichtshalber klar stellen: „Dass die Presse schlecht über uns schreibt, kann kein Abwahlgrund sein.“

Er, von dem andere sagen, er habe sie so fertig gemacht, dass sie die eigene Partei verlassen hätten, weil er nur eine, seine Wahrheit zuließ, fühlt sich plötzlich selbst als Opfer, als Verfolgter, als Missverstandener. „Man versucht, uns zu isolieren, aber positionell sind wir nicht isoliert. Der Friedensbeschluss wird eine Dynamik entfachen“, sagt Kristian Glaser wie um sich selbst Mut zu machen.

Die Angst vor der Abwahl ist groß. Sie wäre der Rückfall in die politische Bedeutungslosigkeit, das ist auch dem Vorstand klar, und so droht er, „dass es demnächst keinen Parteitag geben wird“, egal, was die übrigen 180 Mitglieder im Landesverband fordern. Der Vorstand ist sich selbst genug, und seine Amtszeit läuft noch. Undemokratisch findet Olaf Walther seine Argumentation nicht. Es habe Gelegenheit zur Debatte gegeben, gleichberechtigte „Einzelgespräche“ etwa zwischen Gesamtvorstand und jeweils einem Mitglied darüber, dass Gewerkschaftsarbeit nicht eine Sache vor Ort ist, sondern grundlegend innerhalb der Partei zu erörtern ist. Oder dass ein Vertreter der Bundestagsfraktion eben nicht mit Unterstützung rechnen kann, wenn er sein gutes Recht wahrnimmt und „ohne demokratische Legitimation des Landesverbands agiert“. Aber diese „Aktivberatung“ sei ebenso wenig genutzt worden wie die Parteitage. Gut, sie dauerten etwas länger, sagt Olaf Walther, um sodann klar zu machen, dass sich daran nichts ändern wird: „Wer das dann als Aussitzen betrachtet, mit dem ist schwierig zu diskutieren.“ Mit dem kann man nur umgehen wie mit einem Verräter. Sechs Augenpaare lächeln zum Abschied.

„Stasi-Spitzel“ und „Gysi for President“ hat jemand wohl schon vor längerer Zeit an die Tür der Geschäftsstelle gesprüht. Der Landesvorstand hat kein Reinigungsmittel besorgt. Von innen kann man darüber gut hinwegsehen.