Es darf gestrunzt werden

Sie ist eine bestens funktionierende Zentrifuge des Literaturbetriebs, und doch droht der Literaturwerkstatt in Pankow die Räumung. Eine Hymne und Solidaritätsadresse

Die Literaturwerkstatt Berlin ist in Gefahr: Zum Jahresbeginn ist die Villa in Pankow, in der die Institution seit Anfang der 90er-Jahre untergebracht ist, vom Land Berlin an die Alteigentümer übergegangen. Jetzt laufen Mietschulden auf, obendrein wurde die Immobilie zum Verkauf angeboten die Räumung droht. Ist die Literaturwerkstatt noch zu retten? Der Kulturausschuss wird sich am kommenden Montag mit dieser Frage beschäftigen.

Wenn davon gesprochen und geschrieben wird, dass seit den frühen 90ern „die Lyrik“ in Deutschland wieder einen Stellenwert innerhalb der Literatur gewonnen habe, so hängt das weniger mit dem Altmedium Buch zusammen als mit dem angestiegenen Interesse an den Live-Auftritten, mit denen jüngere und junge Autorinnen und Autoren vor das Publikum treten.

Für die qualitätsmäßig und gutelaunemäßig besten Durchführungen von Lesungen, für literal-orale Performances, bürgt die von Thomas Wohlfahrt geleitete Literaturwerkstatt in Berlin-Pankow, Majakowskiring. Ich spreche vor allem von der längst legendären „Sommernacht der Lyrik“, bei der ich mehrfach zu Gast war, auch schon mal als Kurator eingreifen konnte, hier, in der Literaturwerkstatt: Zweifelsfrei im ganzen deutschsprachigen Raum für deutsch- wie fremdsprachige Gedichte und ihre VerfasserInnen das Geilste, was geboten wird. Die „Sommernacht der Lyrik“ hat documenta-Charakter bekommen!

Ja, wenn die Zukunft einer Institution wie der Literaturwerkstatt auf dem Spiel steht, darf man, muss man ruhig auf die Pauke hauen. Es darf gestrunzt werden, ohne dass die gediegenen bis abgewrackten, ganz 60er-Jahre-mäßigen Mit-Literaturhäuser gleich melden, das und das hättense schon „viel früher“ gemacht.

Es darf gestrunzt werden: Neulich liefen 6 (sechs!) Stunden Lyrik, Theorie und Praxis, verteilt auf zwei Nächte, im Fernsehen. Aufgeboten waren Durs Grünbein und Yoko Tawada, Inger Christensen bis Altkotzbrocken Wondratschek und noch ein Dutzend Dichterinnen und Dichter, Leute von der Uni wie Jörg Drews, Joachim Sartorius vom Goethe-Institut oder Verlagsmenschen wie Christian Döring. Angeregt und mitveranstaltet von der Literaturwerkstatt.

Seit vergangenem Jahr gibt es im Internet die auch multimedial ausbaufähige, dabei gleich von Beginn an höchst erfolgreiche „lyrikline“ – Anreger und Mitveranstalter: Literaturwerkstatt. Es gibt den Austausch Literatur/Architektur in der Literaturwerkstatt. Ein letztes Beispiel: Die Nachwuchsarbeit via „open mike“, inzwischen eine bestens funktionierende Zentrifuge des Literaturbetriebs. Wird von der Literaturwerkstatt gemacht. Die ein Projekt der in den alten wie in den neuen Medien erfahrenen Vierzigjährigen ist. Die Junge nachziehen. Selbstverständlich auch ein junges Publikum haben. Aus Ost und West. Ein gelungenen Stück an Wiedervereinigung, die Literaturwerkstatt in Pankow.

Und es wäre nun nicht so nett, wenn dieses in jeder Hinsicht zeitgemäße und, von der Konzeption her, zukunftsträchtige Projekt eingestellt werden würde. Das kann sich wirklich kein an internationaler Dichtung und Literatur interessierter Mensch wünschen! THOMAS KLING

Thomas Kling, 43, ist Dichter. Sein jüngster Gedichtband heißt „Fernhandel“ und ist im DuMont Verlag erschienen.