Dunkle Lichtgestalten

Die Frankfurter Regisseurin Helena Waldmann ist Meisterin eines intelligenten optischen Verwirrspiels, das den Blick durch multiple Projektionen zugleich irritiert und thematisiert

von FALK SCHREIBER

Erst beim Schlussapplaus ist der Tänzer zu sehen: Bislang war Frieder Bachmann ein Schatten auf einer Leinwand, im Kampf mit Videoprojektionen, dann, ganz kurz, ein Paar Beine, das sich wie mechanisch hinter der zweigeteilten Bühne bewegt. Die Regisseurin und Choreografin Helena Waldmann irritiert mit ihrer Arbeit „glücksjohnny“ nach Brechts Novelle „Vier Männer und ein Pokerspiel oder Zu viel Glück ist kein Glück“ den Blick des Zuschauers. Nie ist ganz klar, was er sieht, einen Film, eine Projektion, Schattentheater, Tanz oder ein hochdynamisches Tutti aller vier. Dazu spricht die Tänzerin Mechthild Grossmann den Prosatext mit androgyner Stimme – auch hier ein Verwischen der Grenzen, der Eindeutigkeiten.

Die 1962 in Frankfurt geborene Helena Waldmann arbeitet schon seit der 1985 entstandenen Produktion „die krankheit tod“ mit solchen Irritationen. Gleichzeitig bedrohlich nahe wie unerreichbar kriecht hier Florence Perrin über den Köpfen der liegenden Zuschauer durch eine gallertartige Masse, getrennt von ihnen durch eine durchsichtige Plastikfolie und durch die Lichtregie, die immer nur einzelne Abschnitte des Tänzerinnenkörpers sichtbar werden lässt, mit einer nahezu embryonalen Intimität. Aber war „die krankheit tod“ noch durchzogen von strukturbildendem Respekt vor Marguerite Duras’ Text, spürt man bei den jüngeren Arbeiten einen stellenweise harschen Humor, eine Ironie, die von der Vorlage distanziert und den Blick des Publikums zum voyeuristischen Beobachten macht.

Obwohl Waldmann die literarische Vorlage immer noch neben Musik, Raum oder Körper als wichtiges Element ihrer Arbeit ansieht, kann man im Lauf der Jahre ein Zurücktreten ihrer Bedeutung notieren. „vodka konkav“ (1997) weist die Vorlage, Wenedikt Jerofejews Poem „Die Reise nach Petuschki“, nur noch in Spurenelementen auf; bei „glücksjohnny“ (1998) wird Brecht zwar ganz stringent durcherzählt, die Bilder aber multiplizieren sich, schichten Erzählungsebene über Erzählungsebene; „CheshireCat®“ (1999), Waldmanns jüngste Produktion, schiebt die Perspektive von Lewis Carrols „Alice“ konsequent vom Mädchen weg.

Dramatische Literatur findet sich dagegen überhaupt nicht. Kein Wunder, war Waldmann, Absolventin des ersten Jahrgangs des Gießener Studiengangs Angewandte Theaterwissenschaften, doch nach ihrem Diplom 1987 zweieinhalb Jahre in verschiedenen Funktionen an Frank-Patrick Steckels Bochumer Schauspielhaus beschäftigt und hat in dieser für sie durchaus wichtigen Schule vor allem gelernt, was sie nicht machen will: literarisches Drama mit Musik, Licht und Körpern zu bebildern. „Es gibt nichts, was mich am Theater weniger interessiert als die Darstellung von Realität.“ Was ihr viel wichtiger ist: Theater, das die ganzen postdramatischen Bilder der Forsythes und Wilsons zwar kennt, aber nicht kopiert, sondern auf eigene, ironische Weise übermalt. Seit 1993 arbeitet Waldmann frei, meist zusammen mit dem Musiker DJ Tricky Cris, dem Lichtdesigner Herbert Cybulska, der Videokünstlerin Anna Saup und der Dramaturgin Susanne Winnacker. Schauspieler setzt sie nur noch sporadisch ein, lieber Tänzer, da diese, so ihre Erfahrung, auch wissen, was zu tun ist, wenn keine oder eine fremde Aktion von ihnen verlangt wird.

Seit 1993 zeichnet sich auch immer deutlicher das Grundelement der Waldmann-typischen Ästhetik ab: die Thematisierung, Ablenkung und Irritation des Blickes. Darstellungsebenen werden ver- und übereinandergeschoben, in „vodka konkav“ etwa über die Betrachtung der Bühne durch eine Spiegelkonstruktion, die das eigentliche Geschehen nicht mehr lokalisierbar macht. Gleichzeitig entwickelt Waldmann ihre Vorliebe, die Themenkomplexe Reisen und delirierende Zustände, Drogen- und Suchterfahrungen – Trips. „Schatten“ nennt sie ihre Figuren, „Phantome“ oder „Lichtgestalten“ – und Letzteres passt nicht nur deswegen so gut, weil die Darsteller immer erst durch den Einsatz der Lichtregie sichtbar werden, als Projektionen auf Leinwänden, Bühnen, Bildschirmen.

Als „Theaterlichtspiele“ wurden Waldmanns Arbeiten früher gern bezeichnet – eine Charakterisierung, die die Betonung allzu eindeutig, aber nicht ungerechtfertigt auf den rein ästhetischen Aspekt des abgelenkten Blicks legt. Das ist der großstädtische Blick, der immer aufgehalten wird von Mauern, abgelenkt wird von Spiegeln. Nirgends so sehr wie in Frankfurt, der Stadt der verglasten Bürotürme, deren Künstlerhaus Mousonturm Waldmann sieben Jahre so etwas wie eine künstlerische Heimat war.

Sieben Jahre benötigt der menschliche Körper, um seine gesamten Zellen zu erneuern: Für Waldmann heißt das auch, dass sieben Jahre Frankfurt genug sind, dass eine Luftveränderung nötig sein wird, um der Wiederholung zu entgehen. Denn die Gefahr besteht durchaus, dass ihre Arbeiten leichter konsumierbar werden, sobald das überraschende Moment der eigenen Ästhetik fehlt. Folgerichtig wird die Regisseurin in Zukunft hauptsächlich in Berlin arbeiten, für die Berliner Festspiele an „See and be scene“ nach Brett Easton Ellis „Glamorama“ und später als Artist in Residence im Podewil. Ohne Cybulska, ohne Saup, ohne Tricky Cris. Die Zellen erneuern sich.