„Das sind verlassene Kinder“

■ Wer glaubt, Schulschwänzer hätten es leicht, irrt: „Verweigerung macht Sinn“ heißt ein Buch der Bremer Psychologin Karin Nitzschmann. Sie fordert psychologische Hilfen

18 Jahre unterrichtete Karin Nitzschmann als Lehrerin an Bremer Regelschulen, bis sie 1984 an die Schule für Krankenhaus- und Hausunterricht im Land Bremen wechselte. Die betreut kranke Schulkinder – ambulant oder stationär. Erst dort stieß die berufserfahrene Pädagogin und Diplom-Psychologin auf das Phänomen der „Schulvermeidung“ – auf Kinder, die dem Unterricht fernbleiben. Manchmal monatelang. Im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Bremer Universität wertete sie Patientenakten dieser Kinder aus. Deren Ergebnisse liegen ihrer Veröffentlichung „Verweigerung macht Sinn“* zu Grunde.

taz: Sie waren 18 Jahre lang Lehrerin an Bremer Regelschulen. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihnen Schulverweigerer während dieser Zeit nicht aufgefallen sind. Wie kann das angehen?

Karin Nitzschmann: Auf unseren Schulkonferenzen wurden solche Dinge nicht besprochen – und mir selbst sind sie damals nicht aufgefallen. Das könnte ein Wahrnehmungsproblem sein. Bei den Schulvermeidern handelt es sich ja oft um ruhige Kinder, die sich auch um Leistung bemühen. Wenn da eine Krankmeldung kommt, hat man nicht sofort den Eindruck, sich sorgen zu müssen. Bei einem Wegläufer dagegen ist man oft sogar froh, wenn das Kind nicht kommt, weil es die anderen so häufig stört. Dann kann man eine Schulstunde halten, von der die anderen Kinder was haben. Das hört sich in der Öffentlichkeit nicht gut an – aber es ist manchmal so.

In Bayern, in Nürnberg beispielsweise, setzt die Polizei Schulflüchtern nach, die sich in der Stadt rumtreiben. Wie bewerten Sie das?

Ich finde das gut. Diesen Kindern und Jugendlichen muss man am besten sofort nachgehen. Psychologisch gesehen haben sie alle viele Kränkungen erlebt – was sich in der Schulverweigerung ausdrückt. Sowohl das zu Hause bleiben als auch das Rumtreiben sind unterschiedliche Folgen eines Entwicklungskonfliktes während der ersten Lebensjahre, in denen das Kind sich seiner möglichen Autonomie bewusst wird, in der es laufen lernt und auch weglaufen will – aber zugleich will es sicher gehalten und behütet werden. Darin liegt eine frühe, nicht bewältigte Angsterfahrung, von der Bezugsperson getrennt zu sein. Die Frage ist jedoch, ob Polizei und Staatsanwaltschaft nicht nur die Spitze des Eisbergs berühren. Vor allem Eltern müssen unterstützt werden, besser „zu eltern“.

Wie ist das eigentlich für die Familie, wenn das Kind zu Hause rumhängt?

Die Eltern sind entsetzt und betonen – bei Hausbesuchen beispielsweise – dass das Kind morgen wieder in die Schule geht. Trotzdem kommt es vor, dass es nicht geht. Verbal ist die Botschaft: Das Kind soll gehen. Die verborgene, andere Botschaft wird meist erst in langwieriger Beratung offengelegt. Dabei geht es um familiäre Verhaltensmuster, die sich so eingespielt haben, dass es zu diesem Konflikt kommt. Meine Untersuchung hat ergeben, dass es immer einen aktuellen Auslöser gibt, der das Kind veranlasst, nicht mehr zur Schule zu gehen und dass dieser Vorfall meist eine ähnliche Struktur hat wie der Familienkonflikt. Das aufzuarbeiten bedarf familientherapeutischer Hilfe.

Wie geht es Schulschwänzern denn eigentlich?

Nicht gut. Sowohl die Schulvermeider als auch die Wegläufer sind nach einer gewissen Zeit total vereinsamt und von sozialen Kontakten isoliert, treiben sich alleine rum, klauen auch mal. Aber das sind auch Anknüpfungsversuche, denn dann muss man sich um sie kümmern, weil sie etwas verbrochen haben. Es sind verlassene Kinder.

Wissen Sie, wo diese Kinder später beruflich im Leben landen?

Ich habe viele überraschende Reaktionen auf mein Buch erhalten – viele dahingehend, dass Menschen mir offenbart haben, dass sie selbst zu dieser Gruppe gehörten, dann aber den Sprung in den Beruf geschafft haben. Die meisten sehen es als eine Entwicklungskrise, die sie gemeistert haben. Schwänzer, die es schwer haben, sich an Regeln zu gewöhnen, kommen allerdings seltener zu Abschlüssen.

In Bremen gab es 1997 noch die hohe Zahl von 405 Schulverweigerern. Heute liest sich die Statis- tik mit zuletzt 214 Fällen schöner, denn die Bildungsbehörde regis- triert nur noch besonders gravierende Fälle. Für das Lösen der Probleme seien vorrangig die Schulen zuständig, heißt es. Wie bewerten Sie das?

Experten gehen von rund 1.000 Schulverweigerern in Bremen aus. Grundsätzlich ist es keine Frage, dass Lehrer zuständig sind, den Schülern nachzugehen. Aber man muss sich darüber klar sein, dass Lehrer oft auch als zweite Elterninstanz gesehen werden. Richtet sich der Protest gegen die Eltern, kann er sich umso heftiger an den Lehrern entladen. Von daher wäre eine beratende Unterstützung für Lehrer gut. In Hamburg wird das Modell der Fallkonferenz praktiziert – einer ist verantwortlich, aber die verschiedenen Berufsgruppen kommen zusammen, um den Verantwortlichen auszurüsten. ede

*Karin Nitzschmann, „Verweigerung macht Sinn“, Schulvermeiden und Weglaufen als Selbstfindung. Brandes&Apsel Verlag, 2000, Frankfurt a.M., 24,80 Mark