Beute der Poetenjagd

Zeig dich doch, du Sau! Berliner Autoren rüsten zur „Lesershow“ in der Volksbühne
von WLADIMIR KAMINER

Seit geraumer Zeit verbreitet sich das Gerücht: Die junge neudeutsche Literatur ist hier irgendwo aus den Gettos von Berlin aufgetaucht. Überall hinterlässt sie nun ihre Spuren und reizt die Journalisten. Aber sie zeigt sich nicht in vollem Ausmaß, die Sau. Die Journalisten durchkämmen die Stadt, rennen von einer Kellerkneipe zur anderen und versuchen, sie am Schwanz zu packen.

Nur manchmal, nachts, völlig unerwartet, kommt die junge neudeutsche Literatur aus ihrem Versteck heraus und überrascht die Journalisten, während sie schon beim fünften Bier die letzte Hoffnung aufgegeben haben. Die Berichte über diese geheimnisvollen Begegnungen sind dann auch oft sehr verwirrend, und die Diskussionen darüber, wie die neue Literatur aussieht und wo sie sich für gewöhnlich aufhält, nehmen kein Ende: Den Leuten vom Spiegel kommt sie in der Kalkscheune in Mitte entgegen, denen vom Tagesspiegel in einer Kneipe in Friedrichshain.

Die ganze Stadt hält sie in Atem, die junge neudeutsche Literatur – nur ihr wahres Gesicht zeigt sie nicht. Doch alle sind überzeugt: Die Überwindung der Ironie im Hotel Adlon war nur der Anfang. Irgendwo da draußen in den Berliner Katakomben wandert der literarische Untergrund herum, klopft an die Wände, säuft Bier und schreit nach Verlegern. Aber er kommt nicht raus. Und die aufgeregten Leser, Kritiker, Literaturagenten, letztendlich die Verleger selbst, suchen sie auch, beißen sich verzweifelt in die Ellenbogen: Zeige dich doch, du junge neudeutsche Literatur!

Nun ist es endlich so weit: die Neue Gesellschaft für Literatur (NGL) hat in Zusammenarbeit mit der Volksbühne (VB) diese Jungs – und Mädchen – ausfindig gemacht und aus ihren Verstecken rausgekobelt, um sie alle an einem Ort dem Publikum zu präsentieren.

Was haben sie eigentlich dafür bezahlt? Keine Ahnung. Drei Tage lang wird die NGL im Roten Salon der Volksbühne im Rahmen der „Lesershow“ ihre Beute zeigen. Als Moderator dieser Veranstaltung tritt Jakob Hein auf – ein hoffnungsvoller Kinderpsychiater, der gleichzeitig auch die medizinische Betreuung der jungen Autoren übernimmt. Natürlich schreibt Jakob auch, das ist seine dritte Identität. Außer dem Moderator treten auch noch vier Dutzend anderer Autoren auf, die man in diesem kleinen Artikel gar nicht alle namentlich benennen kann. Es wäre auch sinnlos, weil sie ja sowieso niemandem bekannt sind. Aber einige möchte ich trotzdem erwähnen. Mich zum Beispiel. Ich trete dort auch auf, nebenbei gesagt. Unter anderen auch die berühmten Brillenträger aus der Friedrichshainer Kneipe Tagung, die sich selbst „Chaussee der Enthusiasten“ nennen und eine Literaturzeitschrift namens Brillenschlange mit fünf Vorworten herausgeben. Dann noch die Surf-Poeten mit Michael Stein an der Spitze – das ist der Glatzkopf mit dem Saxofon und dem Hund, der immer aus der Bild-Zeitung vorliest, als ob er sie selbst geschrieben hätte.

Die Mitglieder der „Reformbühne Heim und Welt“ sind auch dabei, die „Weibergespinste“, „Die kleinen Dilettanten“, „Slam Poetry“ und so weiter und sofort – mit einem Wort: viele.

Die Veranstalter haben in dem Programm ihre Erwartungen klar und deutlich ausgedrückt: „Die neuen Metropolendichter reflektieren bei Flaschenbier und in verrauchter Atmosphäre über alltägliche Erfahrungen zwischen Wahn und Wirklichkeit.“ Na also, es geht doch! Da freuen sich die Verleger. Mit ein bisschen Anstrengung und Staatsknete lässt sich aus jedem Underground ein Overground zaubern.

Heute und morgen, 20 Uhr, in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Wladimir Kaminer ist heute ab 20 Uhr zusammen mit anderen Autoren der „Reformbühne“ zu sehen und zu hören.